Kanō Jigorō

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Kanō Jigorō

Kanō Jigorō (jap.: 嘉納 治五郎) war der Begründer des jūdō. Er wurde am 28. Oktober 1860 in Mikage geboren und starb am 4. Mai 1938 auf seiner Rückreise von Kairo nach Tōkyō an Bord der S.S. Hikawa Maru.

Japan zur Zeit Kanōs

Japan fand sich Mitte des 19. Jahrhunderts am Beginn einer neuen Ära wieder. Die shōgune der Tokugawa-Periode (1603-1868) hatten den Inselstaat jahrhundertelang von der Außenwelt isoliert und dem Volk weder wissenschaftliche noch ökonomische Neuerungen aus dem Ausland zugestanden. Doch um 1854 konnten die Herrscher Japans dem Druck von Innen durch den Ruf des Volkes nach Freiheit und von Außen durch Forderungen der westlichen Welt nach Handelsbeziehungen nicht mehr standhalten. Korruption, bittere Armut und gnadenlose Diktatur hatten die Macht der shōgune geschwächt und die Tür zu einem gewaltsamen Umsturz geöffnet. Als Kommodore Matthew Calbraith Perry am 7. Juli 1853 mit vier Schiffen aus Amerika in der Bucht von Edo vor Anker ging, erkannte dieser die geschwächte Situation Japans sofort. Zwar weigerte sich die Regierung zu diesem Zeitpunkt noch, der Forderung die Häfen zu öffnen nachzugeben, doch als Perry am 31. März 1854 erneut mit einem Geschwader zurückkehrte, war sie gezwungen den Handelsvertrag von Kanagawa mit den USA zu unterzeichnen. Bald darauf folgten auch Holland, England, Frankreich, Preußen und Russland als Handelsmächte, und Japans Isolation war endgültig vorbei. Als neu entdeckte Handelsmacht stand Japan nun unter Zugzwang. Die anderen Länder waren dem Inselstaat in ihrem Fortschritt um Jahre voraus, und um für ihre Vertragspartner weiter von Interesse zu sein und die so wichtige neue Einkommensquelle zu sichern, musste man sich an den allgemeinen Standard anpasssen. In einem unglaublichen Kraftakt sollte es schließlich innerhalb weniger Jahrzehnte gelingen, alle Rückstände aufzuholen und in manchen Bereichen sogar einen Schritt voraus zu sein. Während dieser Zeit musste sich gezwungenermaßen auch die Mentalität und Kultur des Volkes ändern. Materialismus, Nationalismus und das ewige Streben nach Neuem nahmen die Plätze der alten Werte und Traditionen ein.

Jigoro Kano demonstriert eine Judo Technik (Zeichnung von Monika Lind, BSK).

Kanōs Lehrjahre

Inmitten dieser Wirren und Veränderungen der alten Ordnung Japans zu einer Handels- und Militärmacht, wurde Kanō Jigorō am 20. Oktober 1860 in Mikage bei Kobe (Präfektur Kyugo) geboren. Er war das dritte von fünf Kindern, einer der wohlhabendsten Familien in Mikage. Da sein Vater Mareshiba Nachkomme einer Familie war, die in ihren Reihen auf unzählige Shintō-Priester, buddhistische Lehrer und konfuzianistische Gelehrte zurückblickte, und seine Mutter Sadako einem wohlhabenden Clan von Sake-Brauern angehörte, konnte Jigoro Kano seine Kindheit wohlbehütet und ohne materielle Einschränkungen verbringen. Doch obwohl seine Eltern im Gegegnatz zu Funakoshi Gichin nie mit finanziellen Schwierigkeiten zu kämpfen hatten, war Kanos junges Leben nicht unbeschwert. Sadako war in ihrer Erziehung sehr streng und achtete genau auf die Disziplin und das Benehmen ihres Sohnes. Sie tolerierte weder einen falschen Umgangston noch ungesittetes Auftreten. Zudem war es zu jener Zeit üblich, dass die Söhne reicher Familien Unterricht in Kalligraphie und den chinesischen Klassikern erhielten, und da Mareshiba selbst Experte auf diesem Gebiet war, kümmerte er sich intensiv um die Ausbildung seines jüngsten Sohnes Jigorō.

1869 traf die Familie jedoch ein schwerer Schicksalsschlag. Kanōs Mutter, die er trotz ihrer Strenge später immer als gütigen und nachsichtigen Menschen in Erinnerung hatte, starb unerwartet. Um die unangenehmen Erinnerungen vergessen zu können, packte der trauernde Vater daraufhin kurz entschlossen seine Sachen und zog mit seinen Kindern nach Tōkyō. Da er als Unternehmer und Regierungsbeamter arbeitete, hatte sich Mareshiba schon lange für die Neuerungen der Meiji-Restauration begeistert, und mit seinem Umzug in die neue Hauptstadt Japans sah er die Chance zu einem neuen Anfang. Gleich nach seiner Ankunft in Tōkyō begann Mareshiba die Grundlagen für seinen neuen Lebensweg zu schaffen. Zu seinen ersten Maßnahmen gehörte die Einschreibung seines Sohnes Jigorō in die Seitatsu Shojuku. Dies war eine private Akademie, die von dem berühmten Gelehrten Keido Ubukata geleitet wurde und in sich die Richtlinien der Meiji-Restauration vereinbarte. Unter den Schülern fanden sich nicht nur Angehörige der oberen Klassen, die bis 1868 das alleinige Privilieg des Lernens besessen hatten, sondern auch Kinder der Mittel- und Unterschicht, die sich größtenteils zu Sumōringern, Schauspielern oder Geishas ausbilden ließen.

Kanō selbst wurde von Ubukata in Kalligraphie und chinesischer und japanischer Literatur unterrichtet. Der Gelehrte hatte schon früh erkannt, dass die westliche Kultur für das neue Japan von großer Bedeutung sein würde, und daher bezog er in sein Lehrsystem auch die Traditionen und Wissenschaften des Westens mit ein und veranstaltete oft Diskussionsabende über aktuelle Ereignisse und politische Entscheidungen. Gerade diese neumodischen Veranstaltungen hatten Mareshiba dazu bewogen, seinen Sohn von Ubukata ausbilden zu lassen, da der Vater wohl wusste, dass sich dies später einmal bezahlt machen würde. Auch Kanō Jigorō war von Ubukatas Ansichten und Einstellungen begeistert, und schon bald begann er sich für die Künste und Traditionen des Westens zu interessieren. Schließlich trat er in die Akademie von Shubei Mitsukuri ein, um dort die führende Sprache des Abendlandes zu studieren: britisches Englisch. Da dem wissbegierigen Kanō das Unterrichtsangebot an dieser Akademie jedoch bereits nach kurzer Zeit nicht mehr genügte, schrieb er sich bereits 1873 an der Ikuei Gijuku ein. An dieser Schule unterrichteten ausschließlich englische, deutsche oder holländische Lehrer, so dass Kanō zu genüge in den Genus westlicher Sprachen kam. Doch trotz dieser Vorteile fühlte sich der junge Student an dieser Akademie nicht wohl. Viele ältere Kommilitonen waren auf seine Intelligenz eifersüchtig und störten sich an seinem wohlerzogenen und etwas hochnäsigen Auftreten. Immer wieder lauerten sie Kanō in seinem Schlafsaal auf und schickanierten ihn auf hinterhältigste Weise. Kanō, der sich gegen die viel stärkeren Raufbolde nicht zu helfen wusste, blieb nichts anderes übrig, als die Grausamkeiten stillschweigend zu ertragen und sich weiter seinen Studien zu widmen.

Darstellung alter Jūjutsu-Kämpfer, die Vorgänger der Jūdōkas
Darstellung alter Jūjutsu-Kämpfer, die Vorgänger der Jūdōkas

Eines Tages erzählte ihm ein befreundeter Kommilitone von einer grandiosen Kampfkunst namens jūjutsu, die es Menschen mit einer geringen Körperkraft möglich machen sollte, stärkere Angreifer zu kontrollieren. Kanō war von dieser Neuigkeit begeistert, er sah in jūjutsu die Lösung seiner Probleme. Doch sollte er erst viel später mit dem Training des jūjutsu beginnen, da er zu diesem Zeitpunkt keine Möglichkeit sah, sein Fremdsprachenstudium zeitlich mit dem Studium der Kampfkunst zu vereinbaren. So widmete er sich zuerst verschiedenen anderen Sportarten wie Gymnastik, Rudern und Baseball, um seinen Körper zu kräftigen und auszubilden. Bereits ein Jahr später wechselte Kanō nochmals die Akademie und trat in die Fremdsprachenschule Tōkyōs ein, deren guter Ruf sich weit über Tōkyō hinaus verbreitet hatte. Zu seinem Schrecken musste Kanō dort erkennen, dass seine bisherigen Englischkenntnisse absolut unbrauchbar waren. Da bis dahin ausschließlich Holländer oder Deutsche seine Lehrer gewesen waren, konnte er mit der originalen Aussprache und Intonation des britischen und amerikanischen Englisch wenig anfangen. Angesichts dieser neuen Herausforderung stürzte sich Kanō nun um so intensiver in seine Studien und schon nach wenigen Jahren konnte er die Fremdsprachenschule mit Auszeichnungen abschließen. Doch dieser eine Abschluss genügte Kanō noch lange nicht und daher entschloss er sich, 1877 mit dem Studium der Politwissenschaften, Philosophie und Literatur an der Kaisei-Akademie zu beginnen. Zu seiner Überraschung wurde er während dieser Zeit wieder einmal von eifersüchtigen Studenten tyrranisiert, denen er trotz seines Trainings nichts entgegenzusetzen wusste. Nachdem er zum wiederholten Mal zusammengeschlagen worden war, entschloss sich Kanō entgültig, mit dem Jūjutsu-Unterricht anzufangen, um diesen schmerzhaften Unterbrechungen seines Lernseifers ein für alle Mal ein Ende setzen zu können.

Trotz größter Bemühungen war seine anfängliche Suche nach einem Lehrer jedoch nicht von Erfolg gekrönt. Da sich im Zuge der Meiji-Restauration die Einwohner Japans immer stärker nach Westen zu orientieren begannen, war das Interesse an den alten Kampfkünsten mehr und mehr gesunken, und viele Lehrer hatten sich vollständig vom Unterricht zurückgezogen. „Die Zeiten haben sich geändert“, musste sich Kanō jedesmal anhören, wenn seine Nachforschungen im Sand verliefen. Sogar sein Vater erklärte ihn für verrückt und reagierte auf die andauernde und in seinen Augen unsinnige Suche seines Sohnes immer verärgerter. Doch schließlich gelang es Kanō, noch im selben Jahr (1877) von Fukuda Hachinosuke, einem Meister aus dem von Iso Mataemon gegründeten tenshin shinyō ryū, als Schüler aufgenommen zu werden. Andere Quellen behaupten, dass Kanō zuerst eine kurze Zeit lang unter Teinosuke Yagi trainiert hätte, ehe er zu Fukuda ging. Ebenso wie viele andere Kampfkunstübende hatte auch Meister Fukuda in der damaligen Zeit mit dem mangelnden Interesse der jungen Leute an den Kampfkünsten zu kämpfen, und er war gezwungen, sich seinen Lebensunterhalt zusätzlich als Chiropraktiker zu verdienen. Oftmals war der junge Kanō der einzige Schüler, der zum Training in das dōjō kam und dort ganz alleine für sich mehrere Stunden lang pausenlos dieselbe Technik übte. Doch selbst nachdem er sich völlig verausgabt hatte, war sein Wissensdurst noch nicht gestillt, und er bat Fukuda immer wieder, die eine oder andere Technik ausführlicher zu erläutern. Dem Meister gefiel Kanōs Hingabe an die Kampfkünste und nach kurzer Zeit begann Fukuda, seinen Schüler verstärkt persönlich zu unterrichten. Bald war Kanō einer seiner besten Schüler, und im März 1879 durfte er zusammen mit seinem Trainingspartner Fukushima an einer Demonstration zu Ehren von General Ulysses S. Grant, dem ehemaligen Präsidenten der Vereinigten Staaten, teilnehmen.

Im Jahr 1880 starb Meister Fukuda unglücklicherweise im Alter von 52 Jahren und Kanō war plötzlich ohne Lehrer. In seiner Hingabe und Liebe zu seinem verstorbenen Meister versuchte er, die Schule selbst weiter zu führen, doch bald musste er erkennen, dass seine bisherige Ausbildung dafür noch nicht ausreichend genug war. Schließlich entschloss Kanō sich, sein Studium des tenshin shinyō ryū unter Iso Masatomo (1818 - 1881), dem Sohn des Stilgründers fortzusetzen. Iso war zu jenem Zeitpunkt schon 62 Jahre alt und folglich war der Aufbau seines Trainings im Vergleich zu dem Fukudas sehr unterschiedlich. Masatomos Schwerpunkt lag auf der Übung der kata, und Kanō, der bis zu diesem Zeitpunkt im tenshin shinyō ryū hauptsächlich randori (Partnerübungen) geübt hatte, sah darin eine neue Herausforderung. Sein tägliches Training endete nun oftmals nicht vor Mitternacht und selbst auf dem Heimweg und im Schlaf ging Kanō die verschiedenen Techniken gedanklich nochmals durch. Im Laufe einer kurzen Zeit konnte er schließlich unter der Führung seines Lehrers verschiedene Kata meistern und durch die Übertragung der gelernten Prinzipien auf das Kämpfen gleichzeitig seine Fähigkeiten im randori verbessern. Schließlich war Kanō davon überzeugt, seine kämpferische Stärke soweit ausgebaut zu haben, dass er zusätzlich zu den normalen Übungen, fortan seinen Fortschritt an seinen Mannschaftskollegen testen wollte. In Isos dōjō trainierten zu jener Zeit ungefähr 30 Schüler, und im Laufe eines Tages musste jeder mindestens einmal gegen Kanō gekämpft haben. Ein Jahr später starb Masamoto jedoch und Kano war wieder ohne Lehrer. Zwar hatte er, verglichen mit den wenigen Jahren der Ausbildung im tenshin shinyō ryū, eine große Fertigkeit und viel Selbstvertrauen erlangt, doch war der Wissensdurst Kanōs noch lange nicht gestillt. Die Kunst des jūjutsu faszinierte ihn, und um den Horizont seiner Techniken zu erweitern, bat er schließlich Tsunetoshi Iikubo (1835 - 1889), einen Meister des kitō ryū, um Unterricht. Zu seiner großen Freude stellte er fest, dass dieser Stil, obwohl er auch dem jūjustu angehörte, ganz andere Perspektiven bot als das tenshin shinyō ryū. Meister Iikubo legte besonderen Wert auf die Perfektion der Wurftechniken (nage waza), da diese die Prinzipien seines Stils charakterisierten. Und obwohl er zur Zeit Kanōs bereits 46 Jahre alt war, hatte Iikubo keinerlei Schwierigkeiten, seine Schüler im randori in ihre Grenzen zu verweisen. Kanō, der jeden dieser Kämpfe aufmerksam beobachtete oder am eigenen Leib erfahren musste, war von der Leichtigkeit begeistert, mit der sein Lehrer auch den stärksten Gegner zu Boden brachte, und so ist es nicht verwunderlich, dass nage waza später die Grundlage des jūdō werden sollte.

Nach den Erzählungen eines ehemaligen Schülers von Kanō soll folgende kleine Begebenheit ebenfalls ihren Teil zur späteren Entwicklung des jūdō beigetragen haben: Einer der damaligen Schüler Iikubos, mit denen Kanō trainierte, hatte mit der Zeit so starke kämpferische Fähigkeiten entwickelt, dass es außer Iikubo selbst keinem der Schüler gelang, diesen im Freikampf zu besiegen. Auch Kanō, den es natürlich reizte, der erste zu sein, der sich mit dem Sieg über jenen starken Kämpfer rühmen konnte, bemühte sich vergebens. So oft er es auch versuchte, selbst seine Ausbildung im tenshin shinyō ryū bewahrte ihn nicht vor den vielen schmählichen Niederlagen, die er im Zweikampf mit jenem Schüler einstecken musste. Nachdem er zum wiederholten Mal kampfunfähig gemacht worden war, ehe er auch nur die kleinste Aktion hatte starten können, entschloss er sich schließlich, nach einer anderen Methode zu suchen, um diesen Schüler zu besiegen. In der Bibliothek der Yushima Seido wollte er in allen Büchern, die auch nur das entfernteste mit Kampfkünsten zu tun hatten, nach einer Technik suchen, die ihm für seine Situation geeignet erschien. In einem Band über die Prinzipien des westlichen Ringens soll der Judomeister, dann endlich auch die Technik gefunden haben, die ihm schon nach einem kurzem Studium dazu verhalf, ohne große Schwierigkeiten als Sieger aus dem nächsten Kampf hervorzugehen. Zusätzlich zum täglichen Training unzähliger Variationen von Würfen erhielt jeder Schüler unter Meister Iikubo auch eine Ausbildung im yoroi kumi uchi, dem Nahkampf mit Waffen und Schutzkleidung. Wie zuvor auch begeisterte Kano das Neue und Unbekannte in dieser, und er begann, sich intensiv mit den Prinzipien und Inhalten der Techniken zu beschäftigen. Den größten Teil seiner Energie investierte Kanō zu diesem Zeitpunkt jedoch in das Studium des sekiguchi ryū und seigo ryū, dem er sich auf Anraten seines Lehrers zusätzlich widmete, um den Horizont seiner bislang gelernten Kampfkunstprinzipien noch mehr zu erweitern. Meister Iikubo war sich dem großen Wissensdurst und unaufhörlichem Streben seines Schülers nach neuen Prinzipien wohl bewusst und sah in diesem Vorschlag eine gute Möglichkeit, die Ungeduld Kanōs zu besänftigen. Schon nach kurzer Zeit musste Kanō jedoch erkennen, dass diese neuen Lehren den geistigen Aspekt der Übung fast vollständig vernachlässigten, und er beendete die Übung dieser Stile, um in den Lehren des yìjīng (Buch der Wandlungen) und den Philosophien des Lǎozǐ andere Inhalte zu finden. Vor allem die Fähigkeit seiner Lehrer, ihre Gegner im Kampf allein durch ihren Geist und ihr Persönlichkeit zu dominieren und ohne große Mühen ihren Willen aufzwängen zu können, faszinierte den späteren Judō-Meister und trieb ihn immer mehr dazu an, noch stärker zu üben. Nach einer eigentlich recht kurzen aber trainingsintensiven Zeit meinte er schließlich die hintergründige Lehre soweit verstanden zu haben, dass er sich eigene Formabläufe und Anwendungsbeispiele zusammenstellen konnte. Kurze Zeit später entwickelte Kanō tatsächlich einen eigenen festen Ablauf des yoroi kumi uchi und nannte ihn koshiki no kata. Auch hatten sich seine Fähigkeiten im Zweikampf soweit verbessert, dass es ihm nun leicht fiel, seinen eigenen Lehrer und natürlich alle anderen Schüler zu schlagen. Nachdem er dies einmal festgestellt hatte, soll Kanō jeglichen Respekt vor seinem Meister und der Etikette verloren haben und in seinem Stolz über seine Fähigkeiten jede Gelegenheit dazu genutzt haben, das Unvermögen Iikubos zu demonstrieren. Es dauerte daher nicht sehr lange, bis sich Iikubo schließlich weigerte, den ungestümen Schüler weiter zu unterrichten und ihn im Februar 1882 nach nur einem Jahr der Übung aus seinem dōjō verwies. Trotz allem hatte Kanō in der relativ kurzen Zeit unter Meister Iikubo eine sehr wichtige Lehre erhalten, die auch die Basis seines späteren judōs und alle andern Entwicklungen, die Kanō vornahm, entschiedend prägte: Die Prinzipien des seiryuko zenyo. In seinen Memoiren schrieb der Judō-Meister rückblickend über seine Lehrzeit: „Von Meister Fukuda lernte ich, was meine Lebensaufgabe sein wird. Von Meister Masamoto lernte ich die hintergründige Natur der kata und von Meister Iikubo lernte ich verschiedene Techniken und die Bedeutung des Timings“.

Gündung des Kōdōkan

Auch wenn Kanō Jigorō den größten Teil seiner Zeit nun dem Studium des jūjutsu widmete, blieb er dennoch ein hervorragender und interessierter Student. Jede Minute seiner freien Zeit verbrachte er über seinen Büchern - zumeist nachts - und konnte so 1881 die Universität Tōkyōs mit den best möglichsten Noten verlassen. Während seiner Studienzeit hatte sich Kanō mit zwei seiner Dozenten angefreundet, Professor Ernest Fenollosa (1853 - 1908), der ihn in westlicher Philosophie unterrichtete, und Hofrat Dr. Baelz, der von 1876 bis 1905 der Leibarzt des Kaisers und Professor für Anthropologie und Medizin war. Beide Professoren waren von der alten asiatischen Kultur und deren Künste begeistert und versuchten unentwegt, ihre Studenten und Freunde davon zu überzeugen, dass die überstürzte und unüberlegte Anpassung Japans an den westlichen Standard nur von Nachteil wäre. Sie warnten vor der neuen Mentalität, die alle alten Traditionen und Bräuche ablehnte und den Wert der eigenen Kultur nicht schätzte. Auch die Hintergründe des allseitsbekannten und sagenumwobenen jūjutsu hatte ihre Aufmerksamkeit erregt, und nachdem sie erfahren hatten, dass gerade Kanō sich mit dieser alten Kunst beschäftigte, gründeten sie mit ihrem besten Studenten eine Art Interessensgemeinschaft, die auch nach Kanōs Abschluss von der Universität erhalten blieb. Im Laufe der Jahre sollte es vor allem auch mit Dr. Baelz steten Ermutigungen zu verdanken sein, dass Kanō das Studium des jūjutsu fortsetzte und später trotz vieler Hindernisse unermüdlich an der Entwicklung seiner Kampfkunst arbeitete. Auch nach dem erfolgreichen Abschluss seines Studiums blieb Kanō noch ein weiteres Jahr an der Universität, um sich in verschiedenen Lehrbereichen zu spezialisieren und weiter unter Iikubo trainieren zu können. Doch nachdem er 1882 seinen Meister verlassen musste, hielt ihn an diesem Ort nichts mehr und daher zog er nur wenig später nach Shimotani, einen Stadtteil von Tōkyō. Dort entschloss er sich, im Eisho ji, einem Tempel der buddhistischen Jodo-Sekte eine eigene Schule zu gründen, der er den Namen Kōdōkan gab.

Viele Jahre lang hatte Kanō mit ansehen müssen, wie die wertvolle Kunst des jūjutsu verloren ging, weil das Interesse der jungen Generation in den klassischen Kampfkünsten immer weiter zurückging und somit die alten Jūjutsu-Meister von der Bildfläche verdrängte. Sein Ziel war es jedoch, diese unschätzbaren Lehren zu erhalten. Dabei war sich Kanō natürlich schon zu Anfang vollkommen darüber im Klaren, dass dieses Vorhaben eine schier unmögliche Kraft erfordern würde. In seinen Augen war der einzige Weg, mit dem er sein Ziel erreichen konnte, der, die bestehenden Systeme an die modernen Zeiten anzupassen. Das bedeutete, die starke Betonung des kämpferischen Aspekts, die ihm schon zu Beginn seiner Kampfkunstausbildung missfallen hatten, zu mindern und gleichzeitig die sehr vernachlässigten weichen Prinzipien in den verschiedenen Jūjutsu-Stilen stärker herauszukristallisieren. In der kurzen Zeit seiner Übung unter den verschiedenen Meistern, hatte er einige unterschiedliche Grundlagen erhalten, mit deren Hilfe er nun hoffte die bestehenden Prinzipien nach seinen Vorstellungen ändern zu können. Schließlich entschloss er sich, eine Synthese der beiden Stile tenshin shinyō ryū und kito ryū zu entwickeln. Basierend auf diese Konzepte enthielt das anfängliche jūdō daher noch viele Techniken des Tretens und Schlagens, die der Selbstverteidigung dienten. Später entfernte Kanō diese jedoch Stück um Stück aus seinem Konzept, um jūdō für den allgemeinen Sport und Wettkampf zu entschärfen.

Sein neues System unterstellte er nun drei Prinzipien, die das zukünftige jūdō charakterisieren sollten und als Voraussetzung für die Übung galten:

  1. rentaiho („körperliche Fitness“)
  2. shubuho („die Fähigkeit, Techniken anzuwenden“)
  3. shushin-ho („Meisterschaft des Charakters“)

Gleichzeitig arbeitete er zusätzlich mit einigen alten Schriften aus der Seigo- und Seikuguchi-Schule, die sein Vater ihm freundlicherweise zur Verfügung stellte, nachdem er das ernsthafte Streben seines Sohnes erkannt hatte. Unglücklicherweise hatte Kanō in keinem der Stile, die er gelernt hatte, das menkyo kaiden (Lehrerlizenz) erhalten und durfte nach alter Tradition daher auch keinen von ihnen unterrichten. Dies war eigentlich auch nicht verwunderlich, da Kanō alles in allem insgesamt nur vier Jahre unter einem Lehrer trainiert hatte und den größten Teil seiner Kampfkunst als Autodidakt erübte. Doch da er ohnehin vorhatte, sein neues Konzept von den alten Stilen des jūjutsu zu unterscheiden, übernahm er für seine Kampfkunst kurzerhand den alten Begriff jūdō (柔道 - „sanfter Weg“) den viele Jahre vor ihm schon Terada Kanaemon im jikishin ryū verwendet hatte.

Dass Kanō seinen neuen Stil für die Gesellschaft deutlich von dem alten jūjutsu unterscheiden wollte, lag hauptsächlich auch daran, dass das jūjutsu der damaligen Zeit bei den modernen Japaner einen negativen Ruf hatte. Viele Mitglieder damaliger Jūjutsu-Schulen hatten sich als brutale Schläger entpuppt und ihrem Stil damit schnell zu einem äußerst schlechten Ruf verholfen. Zudem gehörten die Großmeister der alten Stile zum harten Kern der vergangenen Samurai-Tradition und waren somit entschiedene Gegner der neuen Meiji-Regierung, die Japan immer mehr unter den Einfluss der westlichen Mächte brachte. Um in der Gesellschaft anerkannt zu werden, musste Kanō sich von den verpönten alten Stilen lösen und eine eigenständige moderne Strömung gründen.

Die ersten Traininge in der neuen Schule gestalteten sich für Kanō sehr schwierig. Zwar schrieb sich sein erster Schüler schon am 5. Juni 1882 ein, doch hatte er über eine lange Zeit hinweg nur neun Schützlinge und war zudem gezwungen, in einer Ecke der Haupthalle des Tempels zu trainieren. Nachdem durch das Training unbeabsichtigt ein großer Teil der Inneneinrichtung zerstört oder beschädigt worden war und die Mönche jegliches Training im Inneren des Tempels untersagten, stand Kanōs Schule kurz vor ihrem Aus. Aufgrund seiner inständigen Bitten gestattete man ihm schließlich, in einem kleinen Nebenraum ein 12 Matten großes dōjō einzurichten, indem er ungestört unterrichten konnte. Ab diesem Zeitpunkt ging es dann endlich etwas bergauf. Zum einen hatte Meister Iikubo, der trotz des Zerwürfnis bis zu seinem Tod die Bemühungen seines ehemaligen Schülers unterstützte, wieder begonnen, ein- bis zweimal in der Woche in Kanōs dōjō zu unterrichten (wobei er sich weiterhin weigerte Kanō selbst zu unterweisen), zum anderen hatte Kanō endlich eine Arbeitsstelle gefunden, mit der er sich den nötigen Lebensunterhalt verdienen konnte. An der Gakushin, einer Adelsschule in Tōkyō hatte man von den ausgezeichneten Abschlüssen und Fähigkeiten Kanos gehört und ihm daraufhin im August 1882 eine Ganztagsstelle als Schullehrer angeboten, die dieser selbstverständlich mit Freuden annahm. Im Jahr 1883 zog Kanō dann zweimal in ein neues Quartier. Zuerst eröffnete er in Minami Jimbocho eine englische Akademie, an der er an den Sonntagen in einem dazugehörigen Gerätehaus Unterricht im jūdō erteilte. Doch war dieses provisorische dōjō im Winter so kalt, dass kein einziger Schüler zum Training erschien, und so baute Kanō schon wenige Monate später auf dem Grundstück seines gemieteten Hauses in Kami Nibancho (Kojimachi) eine kleine Trainingshalle, in der seine Schüler von 14 - 23 Uhr üben konnten. Da es von seinem Wohnsitz nur wenige Schritte bis zu diesem dōjō waren, ging Kanō jedesmal herüber, wenn jemand zum Training kam. In dieser Zeit begann auch Iikubo wieder, seinen ehemaligen Schüler in den Systemen des kitō ryū weiter zu unterrichten. Und nach langer, intensiver Übung und Erforschung dieser Kunst, gelang es Kanō endlich, den entscheidenen Schlüssel zum jūdō zu finden – das Prinzip des Nachgebens: „Wenn mein Partner zieht, drücke ich - wenn er drückt, ziehe ich.“ Schließlich verlieh Meister Iikubo Kanō im Herbst 1883 eine Lehrlizenz im kitō ryū.

Doch trotz dieser entscheidenen Veränderungen, gelang es Kanō nicht, die Anzahl seiner Schüler (acht 1883 und zehn 1884) zu vergrößern. Erst als er 1884 ein größeres dōjō baute und regelmäßige Traininge einführte, begann sich dies langsam zu ändern. Nun war er auch in der Lage nach und nach feste Regeln für den freien Kampf zu entwickeln und ein Konzept herauszuarbeiten, nach dem er seine Schüler ausbilden wollte. Eine der grundlegensten Änderungen in dieser Zeit war die Einführung eines Rangsystems (kyūdan), das er aus einem alten Kampfkunststil übernahm, und mit dem er die Fortschrittsstufen seiner Schüler in verschiedene Grade einteilen konnte. Tomita Tsunejiro (1865 - 1937) und Saigo Shiro (1866 - 1922) waren die ersten Jūdō-Schüler, die von ihm den shodan (1. dan) erhielten. Als weitere Neuerung führte der Jūdō-Meister für alle Schüler, die sich ernsthaft darum bemühten, die Kampfkunst und ihre Philosophie zu verstehen, das kan geiko ein. Dies war ein besonderes Training, das von Kanō an dreißig Tagen im Winter von vier bis sieben Uhr morgens abgehalten wurde, und in dem er spezielle Techniken und Zusammenhänge des jūdō erläuterte. Da Kanō selbst nur wenig älter war als seine Schüler, trainierte er genauso hart wie sie und studierte mit ihnen im randori die Feinheiten seiner Kampfkunst. Nicht selten war der Jūdō-Meister nach solchen Übungen gezwungen, verschiedene Techniken seines Stils zu verändern oder neu zu deuten, weil die praktische Erfahrung bewiesen hatte, dass seine theoretischen Studien nicht anwendbar waren. Vor allem sein ältester und bester Schüler Saigo veranlasste immer wieder, dass kämpferische Prinzipien entweder völlig überarbeitet oder gänzlich entfernt werden mussten. Nahezu jedes Aufeinandertreffen Saigos mit seinem Lehrer endete in einer Niederlage für Kanō. Die Technikprinzipien des jūdō waren zu diesem Zeitpunkt noch so unausgereift, dass der Jūdō-Meister weder in seinen Würfen noch in anderen Techniken, der Ausbildung seines Schülers im daito ryū des Aikijutsu viel entgegenzusetzen hatte. Kanō hatte jedoch keinerlei Schwierigkeiten, die ihm vor Augen geführten Fehler zuzugeben und begann sofort, in monatelangen Studien das Konzept seiner Kampfkunst entsprechend dieser Schwachstellen zu verfeinern. Diese Verbesserungen sollten jedoch nicht die einzigen bleiben, auch zu späteren Zeitpunkten musste der Meister immer wieder Korrekturen in seinem System vornehmen, um auftretende Mängel zu beseitigen.

Auch der Kōdōkan selbst erfuhr während dieser Zeit einige Neuerungen. Nachdem es Kanō endlich gelungen war, ein 20 Matten großes dōjō zu bauen, das zudem direkt neben seinem Wohnsitz lag, konnte er nun auch einige Schüler aufnehmen, die ihr Leben ganz der Übung des jūdō widmen wollten. Diese, aus der Tradition stammende Art des Kampfkunstunterrichts, hatte in der neuen japanischen Gesellschaft immer mehr an Aktualität verloren. Für einen Kampfkunstmeister der modernen Zeit war es nicht mehr möglich, mit wenigen persönlichen Schülern, die bei ihm lebten und arbeiteten, wie in alten Zeiten finanziell zu überleben. Er musste an die Öffentlichkeit gehen und Werbung betreiben. Allein seine Popularität war dafür ausschlaggebend, ob er genügend Schüler anziehen konnte, um mit deren Beiträgen die anfallenden Kosten zu bestreiten. Diese Methode ging natürlich voll auf die Kosten der Qualität eines Stils. Viele der traditionellen Kampfkunstlehrer versuchten daher einen Kompromiss zu schaffen, indem sie neben dem Massentraining einige wenige interessierte Schüler als uchi deshi („innere Schüler“) bei sich aufnahmen, im dōjō leben ließen und ihnen traditionellen Unterricht erteilten. Auch Kanō hatte sich dazu entschieden, die vielversprechendsten seiner Schützlinge in seiner Schule zu beherbergen, um mit ihnen intensiv zu arbeiten. Doch viele seiner uchi deshi konnten außer ihrer Begeisterung nichts zu den anfallenden Unkosten beitragen, so dass Kanō genötigt war, Massenunterricht am kōdōkan zu erteilen. Da er jedoch nicht genug Schüler hatte, war er gezwungen, den größten Teil aller Ausgaben aus eigener Tasche zu begleichen. Die uchi deshi selbst lebten unter strengsten Bedingungen im Kōdōkan und hatten neben ihrem alltäglichen Training kaum persönliche Freiheiten. Ihr Tagesablauf begann um 4.45 Uhr morgens, und bis 21.30 abends hatten sie ihre Zimmer, das dōjō und das Haus ihres Meisters sauber zu halten, sich um Gäste zu kümmern, Essen zu kochen und viele andere Arbeiten zu erledigen, die in ihrem Umfeld anfielen. In ihrer freien Zeit widmeten sie sich dem Bücherstudium in Philosophie, Psychologie, Wirtschaft und Politwissenschaften und erhielten von Kanō persönlichen Unterricht im jūdō.

Ihr Meister war der Meinung, dass die Kampfkunst kombiniert mit einem ausgebildeten Intellekt jedem Menschen ein erfülltes und sinnvolles Leben ermöglichen würde. Daher trieb er seine Schüler ohne Nachsicht zu vermehrten geistigen und körperlichen Übungen an und predigte immer wieder: „Die Selbstperfektion ist ein allgemeiner Zustand, den man erreicht hat, wenn man physisch gesund und gut entwickelt und im Besitz eines hohen Intellekts und Moralempfindens ist. Dies kombiniert mit der außerordentlichen Fähigkeit, die kleinen Dinge des Lebens zu schätzen (wabi), sollte man in der Lage sein, die Vorteile zu achten und zu genießen, die einem die moderne Zivilisation bieten kann. Außerdem sollte sich jeder darum bemühen, dass er die Liebe und den Respekt der anderen besitzt, so dass diese Menschen aus ihrem freien Willen heraus und ohne zu zögern einem die Wünsche erfüllen – kurz gesagt: man sollte ein einflussreicher Mensch sein. Der Sinn des Lebens ist es somit, sich geistig und physisch weiterzuentwickeln und die größtmögliche Zufriedenheit zu erreichen, die die heutige Gesellschaft bieten kann.“ Für Kanō schien die Übung im Kōdōkan die beste Möglichkeit für seine Schüler, die Prinzipien seiner Lehre so zu verinnerlichen, dass sie diese auch auf ihr tägliches Leben übertragen konnten. Natürlich war dieser Weg für die jungen Schüler nicht sehr einfach, ein Leben in beständiger Selbstdisziplin und Lernbereitschaft, konnte angesichts der vielen Neuerungen, die das moderne Japan dieser Zeit bot, allzu leicht einmal aus der Bahn geraten. Um dieser Problematik entgegenzuwirken, stellte der Jūdō-Meister schließlich einige Regeln auf, die seinen Schülern als Richtlinien dienen und zugleich eine Atmosphäre des Lernens aufrechterhalten sollten. Jeder Kampfkunstübende, der in jener Zeit in den Kōdōkan aufgenommen werden wollte, musste sich verpflichten, den dort herrschenden fünf Geboten bedingungslos zu gehorchen, und wer auch immer gegen eine dieser Bestimmungen verstieß, musste den Kōdōkan verlassen. Als Zeichen seines Einverständnisses unterschrieb jeder uchi deshi diese fünf Regeln mit seinem Blut:

  1. Wenn ich im Kōdōkan aufgenommen werde, will ich keine Übung ohne wichtigen Grund versäumen.
  2. Ich werde meiner Schule keine Schande machen.
  3. Ohne Genehmigung werde ich die mir übergebenen Geheimnisse der Meisterschaft niemandem erzählen und niemandem zeigen.
  4. Ohne Genehmigung werde ich keinen Unterricht im jūdō geben.
  5. Erst als Schüler und dann als Lehrer werde ich immer unentwegt den Regeln des dōjō folgen.

Vom kleinen Dōjō zur Organisation

Innerhalb weniger Jahre stieg die Zahl von Kanōs Schülern rapide an und der Ruf des Kōdōkan verbreitete sich in ganz Japan. Diese Entwicklung war vor allem auch Kanōs altem Uniprofessor Dr. Baelz zu verdanken, der sich innerhalb der letzten Jahre immer wieder voller Begeisterung für die Anerkennung des jūdō innerhalb der Gesellschaft engagiert hatte. In seiner Eigenschaft als kaiserlicher Leibarzt und leidenschaftlicher Anhänger des jūdō war es Baelz schließlich möglich gewesen, seinen Einfluss zur richtigen Zeit so geschickt geltend zu machen, dass die Universität von Tōkyō den Unterricht der Kampfkünste (vornehmlich des jūdō) in ihr Lehrprogramm aufnahm. Damit hatte er den Grundstein zur weltweiten Verbreitung des jūdō gelegt und den Kōdōkan nahezu von einem Tag auf den anderen zu einer ungeheuer großen Popularität verholfen. Nach wenigen Jahre sollte sich diese Neuerung und der weiter andauernde Einsatz von Dr. Baelz sogar soweit auswirken, dass Kanōs Kampfkunstsystem 1890 auch von dem japanischen Erziehungsministerium als persönlichkeitsbildender Schulsport anerkannt und als Pflichtdisziplin in allen Schulen und Ausbildugsstätten eingeführt wurde. Vor allem die Tatsache, dass den Kindern von klein an Disziplin, Selbstverteidigung, Unterordnung und Gehorsam gegenüber von Autoritäten in Form eines ungefährlichen Sports beigebracht wurde, trug zur Entscheidung der nationalistisch denkenden Behörden bei.

Im Jahr 1885 hatte sich die Zahl der Jūdō-Schüler Kanōs auf sagenhafte 54 erhöht. Dies war im Vergleich zu anderen Kampfkunstlehrern dieser Zeit eine ungewöhnlich hohe Zahl und zeugte von der großen Popularität des Kōdōkan. Voller Verwunderung musste der Jūdō-Meister schließlich feststellen, dass man außerhalb Japans nicht nur von der Kunst des jūdō gehört hatte, sondern dass sogar einige Interessenten extra aus dem Ausland nach Tōkyō reisten, um sich von ihm unterrichten zu lassen. Zwei Brüder namens Eastlake aus den USA und ein Professor Ladd von der Princeton University sollten die ersten ausländischen Schüler des Kōdōkan werden. Als im folgenden Jahr dann immer mehr Schüler um Unterricht im Kōdōkan baten, war Kano schließlich gezwungen, seine alte Residenz aufzugeben und in Fujimi cho ein noch größeres dōjō zu bauen. Dort gestattete er es den shodan (1. Dans) auch zum ersten Mal, schwarze Gürtel als Zeichen ihres Ranges zu tragen, um sie von den inzwischen 99 anderen Jūdō-Schülern zu unterscheiden und offiziell ihren neuen Status als Hilfslehrer deutlich zu machen. Kanō war zu diesem Zeitpunkt nicht mehr in der Lage, allein zu unterrichten und konzentrierte sich fast ausschließlich auf die Ausbildung der uchi deshi. Den Gruppenunterricht übernahmen zunehmend die fortgeschrittenen Schüler.

Während dieser Zeit begannen die Mitglieder des Kōdōkan sich auch für die Wettkämpfe zu interessieren, die von der Polizeischule in Tōkyō für Jūjutsu-Kämpfer ausgerichtet wurden. Die Zeit, sich in einem Wettkampf gegen das Jujutsu zu etablieren, schien Kanō gekommen, doch nach wie vor wurde der Kōdōkan von keinem Jūjutsu-Meister ernst genommen. Schließlich erging im Mai 1885 dennoch die erste Herausforderung seitens der Polizeischule an den Kōdōkan, die dieser sofort annahm. In dem vereinbarten Wettstreit trat Saigo Shiro, der beste Kämpfer des Kōdōkan, gegen Terushima, den stärksten Mann der Polizeischule, an. Saigo gewann diesen Kampf mit einem speziellen Wurf, der besonderes Aufsehen erregte und später unter dem Namen yama arashi bekannt wurde. Die Turniere selbst waren für die Teilnehmer jedoch ungefährlich, da es eine neue Regel verbot, tödliche oder auch nur lebensbedrohliche Techniken zu verwenden. Aufgrund der Tatsache, dass Kanō schon vor geraumer Zeit damit begonnen hatte, alle gefährlichen Techniken aus dem randori zu verbannen, war diese Neuerung für die Kōdōkan-Schüler von Vorteil und sie gewannen viele dieser Kämpfe. Angesichts der vielen Siege dauerte es nicht lange, bis die Angehörigen der Polizeischule durch ihre unrühmlichen Niederlagen gedemütigt, einen ihren berühmten Ausbilder, Totsuka Hikosuke aus dem yoshin ryū, darum baten, gegen den Vertreter des Kōdōkan selbst anzutreten.

Zwischen Meister Totsukas Schule und dem Kōdōkan hatte sich über die Jahre eine natürliche Rivalität entwickelt, die schließlich in diesem Wettkampf ihren Höhepunkt erreichen sollte. Nach kurzen Überlegungen entschloss man sich angesichts der Tatsache, dass nur ein Kampf wenig über die wirkliche Qualität der jeweiligen Schule aussagen würde, jeweils 15 der besten Kämpfer auszuwählen, die gegeneinander antreten sollten. Sobald der Termin und die Teilnehmer der Begegnung vereinbart waren, brach in den beiden Schulen ein reges Treiben los. Jeder der ausgewählten Schüler bereitete sich intensiv auf das bevorstehende Ereignis vor, denn das Überleben ihrer Stilrichtung hing davon ab. Nicht nur das Ansehen der Polizeischule, sondern vor allem der gute Ruf des yoshin ryū stand bei diesem Wettstreit auf dem Spiel. Für den Kōdōkan hingegen war dies eine Chance, sich endgültig in den Rängen der anerkannten Kampfkünste zu etablieren. Nach den Kämpfen stand schließlich das Ergebnis fest. Die Schüler des Kōdōkan hatten zwei Drittel ihrer Gegner im Wettkampf geschlagen, mehrere Unentschieden erreicht und nur wenige Kämpfe verloren. Damit wurde die Überlegenheit des jūdō gegenüber dem jūjutsu der Öffentlichkeit plausibel demonstriert, was dem Kōdōkan ein Prestige einbrachte, auf das er sich noch lange berufen sollte. Später wurde Saigo Shiro als Sanshiro Sugata zum Volkshelden Japans, man fertigte Comics an, die die Popularität einer Donald Duck-Figur erreichten und dem Kōdōkan zu einem nie dagewesenen Prestige verhalfen. Mehrere Kinofilme wurden über dieses Ereignis gedreht und verhalfen dem jūdō zu weltweiter Popularität. Obwohl dieser Wettkampf dem Kōdōkan auch einige Niederlagen einbrachte, waren diese im Hinblick auf die Chance der Vermarktung seiner errungenen Siege von kleinerer Bedeutung. Als Meister Totsuka wenige Tage nach dem Tournier den Kōdōkan tatsächlich um zwei Übungsleiter bat, die ihm bei der Ausbildung der Wettkämpfer an der Polizeischule helfen sollten, erkannte man am Kōdōkan klar den Weg in die Zukunft, und Kanō übergab dieses Amt Matsuyama und Yamashita Yoshiaki, die beide zu den erfahrensten Wettkämpfer des Kōdōkan zählten.

Auch in den folgenden Jahren gab es immer wieder einige Jūjutsu-Meister, die die Kämpfer des Kōdōkan selbst in ihrem eigenen Regelsystem leicht besiegen konnten – unter ihnen waren Omori Morikichi (1853 - 1930), ein Meister aus dem yoshin totsuka ryū und Tanabe Mataemon (1851 - 1928), ein schmächtiger Mann, der durch die „Übung des Aalfangens mit bloßen Händen“ und der „Beobachtung von Schlangen, die Frösche verschlingen“ einen faszinierenden Jūjutsu-Stil entwickelt hatte, mit dem er den Schülern des Kōdōkan peinliche Niederlagen beibrachte. Doch ungeachtet der Tatsache, dass der Kōdōkan, der seine Mitglieder nur nach Wettkampfregeln ausbildete, immer wieder Kämpfe gegen Jūjutsu-Meister innerhalb seines eigenen Regelwerkes verlor, rankten sich trotzdem bald viele mystische Geschichten um die „unbesiegbaren“ Techniken des jūdō und dank der exzellenten Werbung wurden immer mehr Menschen auf Kanōs Stil aufmerksam.

Im April 1888 hielt Kanō Jigorō die Zeit für gekommen, sein Konzept auch formell der Öffentlickeit vorzustellen und das jūdō als Wettkampfsport weltweit zu verbreiten. Zusammen mit Reverent T. Lindsay stellte er für die Asiatic Society of Japan (Vereinigung ausländischer Diplomaten, Geschäftsleuten und Professoren, die in Japan lebten) eine Informationsschrift zusammen, in der er die Ursprünge, Entwicklungen, Lehren und Philosophien des jūjutsu und jūdō aus seiner Sicht erläuterte. Neben der bloßen Vorstellung seiner eigenen Kunst wollte Kanō vor allem deutlich machen, dass seiner Meinung nach weder das jūjutsu noch das jūdō Verbindungen zum chinesischen Kempo aufweisen würden, sondern allein japanischen Ursprungs seien. Um diese Theorie zu beweisen, griff er zwei alte Sagen auf, durch die die Gründung des jūjutsu dokumentiert werden sollte und fügte sie seinem Schreiben als Beweis hinzu. Die erste Sage handelte von einem Jungen, der während eines Schneesturms beobachtete, wie sich Weidenzweige unter der schweren Last des Schnees biegen, aber wegen ihrer Flexibilität nicht brechen. Mit Hilfe dieser Beobachtung soll der Junge später eine Kampfkunst basierend auf dem Prinzip des Nachgebens gegründet haben. In abgewandelter Form wird diese Sage in vielen Kulturkreisen Asiens erzählt und Kanōs Anspruch auf japanische Originalität ist mehr als umstritten. In derselben chinesischen Sage heißt der Junge Li Tei Feng und soll das Prinzip des Nachgebens in die Kampfkünste gebracht haben, das späteren in vielen Stilen seinen Inhalt fand. Die andere Sage erzählt von dem japanischen Jūjutsu-Meister namens Sekiguchi Jushin, der des öfteren seinen Fürsten auf Reisen begleiten musste, um ihn vor etwaigen Gefahren zu beschützen. Auf eine dieser Reisen entschloss sich der Landsherr, den Meister zu testen und versetzte ihm einen heftigen Stoß als sie gerade über eine schmale Brücke gingen. Sekiguchi gab diesem Stoß geschickt nach und blieb sicher auf der Brücke stehen. Der Landsherr jedoch geriet durch das Manöver des Jūjutsu-Meisters heftig ins Wanken und musste von diesem davor bewahrt werden, in das kalte Wasser zu stürzen. Etwa zur gleichen Zeit, zu der Kanō sein Schreiben den Mitgliedern der Asiatic Society of Japan übergab und der Kōdōkan immer mehr an Bekanntheit gewann, entschieden einige traditionelle Budō-Meister Japans, eine Gegeninitiative zu Kanōs ausgeklügelter Propaganda seines Kampfsportes zu iniziieren, der zwar nahezu die gesamte Bevölkerung begeisterete, zu diesem Zeitpunkt aber schon die alten Werte des bushidō (Weg des Kriegers) verloren hatte. Sie schlossen sich unter der Leitung von Noguchi Senryuken als shindo rokugo kai zusammen, um der Verfälschung ihrer traditionellen Kunst durch den populären Judō-Meister, der an die Mentalität der Massen appellierte, entgegenzuwirken - doch da sie als traditionelle Kampfkunstmeister nur wenig Ahnung von der Politik einer solchen Vereinignung hatten, hatten sie gegen Kanō kaum eine Chance. Der Kōdōkan hatte um 1889 bereits mehr als 1500 Mitglieder und mehrere Zweigdōjōs in verschiedenen Teilen Tōkyōs und bestimmte die japanische Wettbewerbswelt - was mit dem Inhalt der Kampfkünste nichts mehr zu tun hatte, aber als stärkste Kraft in der Begeisterung der anonymen Masse, damals wie heute gleichermaßen gut funktionierte.

Den Hauptsitz des judō hatte Kanō zu diesem Zeitpunkt bereits in die Tōkyō Region Kami nibancho verlegt, da ihm in dem dortigen neu erworbenen dōjō mehr Platz für seine Schüler zur Verfügung stand, die mittlerweile aus aller Welt anreisten. Nichts schien die weltweite Verbeitung des judō mehr aufhalten zu können, und so legte Kanō ohne Bedenken im August 1889 seine Beschäftigung an der Gakushin-Schule nieder, um im Auftrag der Imperial Household Agency nach Europa zu reisen und dort diplomatische Beziehungen zu knüpfen. Die Verantwortung für den Kōdōkan konnte er während seiner Abwesenheit getrost seinen vertrautesten Mitstreitern Saigo Shiro und Tomita Tsunejiro überlassen, die sich schon zuvor um viele wichtige Belange der Institution gekümmert hatten.

Am 15. September startete der Judō-Meister schließlich in Begleitung eines Beamten aus dem Bildungsministerium seine Reise, die von Yokohama über Shanghai nach Marseille gehen sollte. Dort angekommen besuchte er in einer Mammuttour Lyon, Paris, Brüssel, Berlin, Wien, Kopenhagen, Stockholm, Amsterdam, Den Haag, Rotterdam und London, signalisierte im Auftrag seiner Regierung Japans Handelsbereitschaft, und präsentierte als Zeichen europäisch/japanische Freundschhaft den Wettkampfsport judō, als Beispiel für alle alten Systeme des japanische bujutsu. Zurück in Japan erzählte Kanō seinen Schülern, dass ihm während seines Aufenthaltes in Europa drei Dinge besonders aufgefallen wären: die ungeheuer große Anzahl von Kirchen und Kathedralen, die dort überall in der Landschaft herumstehen, obwohl weder sie noch der durch sie vertretene Glaube für das Volk eine große Bedeutung haben, die Angst aller Europäer irgendetwas von ihrer Eigenheit zugunsten einer fremden Mentalität aufzugeben und die tiefgehende Oberflächlichkeit der Menschen, die ihm sogar Briefe auf Japanisch nachschickten, obwohl sie sich dessen bewusst sind, dass sie die Sprache nicht kennen und daher viele Fehler machten. Diese Erkenntnisse schienen den hochintelligenten Judō-Begründer mit dazu bewogen zu haben, die Verbreitung seines Sportes genau auf die Schwachpunkte der westlichen Welt abzustimmen und damit nicht nur sich selbst, sondern auch den politischen Interessen seines Landes uneingeschränkt zu dienen. Er hat als erster erkannt, dass in konsumorientierten Gesellschaften die alten Werte und Traditionen der Vergangenheit angehörten und das Macht nicht auf Qualität, sondern auf Quantität beruht. Diese Erkenntnis sollte nicht nur ihn ausschlaggebend beeinflussen, sondern viele andere Kampfkunstmeister auch, die anschließend sehr konsumorientierte Kampfkunstorganisationen gründeten und „japanisches Budo“ weltweit vermarkteten.

Doch zunächst unterbrach Kanō seine Rückreise in Kairo, um die sagenumwobenen Pyramiden zu besichtigen. Auf der nachfolgenden langen Schiffsreise nach Japan vertrieben er und seine Mitreisenden sich die Zeit mit kleinen Ringkämpfen gegen die Besatzung. Der stärkste Gegner, der sich ihm dort entgegenstellte, soll ein russischer Seemann gewesen sein, der Kanō um gut zwei Kopflängen überragte und bis dahin jede Auseinandersetzung innerhalb weniger Augenblicke durch einen gezielten Schlag beendet hatte. Zu dessen Überraschung gewann der Judō-Meister den Kampf gegen ihn ohne allzu große Anstrengungen, wobei das Publikum noch viele Tage später von der Leichtigkeit begeistert war, mit der Kanō den schweren Seemann warf, ohne ihm die kleinste Verletzung zuzufügen.

Im Januar 1891, nach 16 Monaten Abwesenheit, erreichte der inzwischen erfolgreiche Geschäftsmann Kanō Japan. Schon bei seiner Ankunft im Hafen erfuhr er von seinen wartenden Schülern, dass Saigo Shiro während dieser Zeit in große Schwierigkeiten gekommen war. Entsetzt musste sich der Judō-Meister anhören, dass seine stärkste Kraft, die aufgrund seiner technischen Fähigkeiten stets das Aushängeschild des Kōdōkan gewesen war, aufs schwerste gegen die Regeln des judō verstoßen hatte. Während der Abwesenheit Kanōs hatten Saigo und seine Anhänger rivalisierende Schulen zu realistischen Kämpfen herausgefordert, was auf den Marktplätzen Tōkyōs zu unaufhörlichen öffentlichen Auseinandersetzungen geführt hatte und die Polizei in beständiger Alarmbereitschaft hielt. Als Saigos Gruppe sich eines Tages schließlich mit mehreren Sumoringern anlegte, eskalierte die Auseinandersetzung zu einer offenen Straßenschlacht. Unglücklicherweise waren Saigo und seine Mitstreiter so sehr vom Kampfesrausch ergriffen, dass sie auch die heraneilenden Polizisten angriffen, die den Streit schlichten wollten und einige von den Beamten über die Brücke in den Sumida-Fluss warfen. Da Kanō selbst das Oberhaupt der polizeilichen Judō-Organisation war, konnte er diesen Vorfall nicht ohne weiteres ignorieren, da dies zur Folge gehabt hätte, dass der Kōdōkan ein Objekt behördlicher Beobachtungen geworden wäre. Schweren Herzens musste er seinen stärksten Kämpfer entlassen, der die technische Entwicklung des Kōdōkan-Judō mehr geprägt hatte, als er selbst und dem allein das Image der unbesiegbaren Kampfstärke seiner Organisation zuzuschreiben war. Nachdem Saigo zum Weggang aufgefordert worden war, verließ er den Kōdōkan und zog nach Nagasaki, wo er als Reporter zu arbeiten begann. Obwohl Kanō ihm einige Jahre später als Anerkennung für seine Leistungen den 6. dan im judō verlieh, ignorierte Saigo diese Anerkennung, gab sowohl das judō wie auch das daito ryū für immer auf und widmete er sich von nun an der Übung des kyūdō (弓道 „ Weg des Bogens“), in dem er den 9. dan und damit den Titel eines hanshi erreichte.

Nur sieben Monate nach seiner Rückkehr nach Japan, beschloss der damals 31jährige Kanō schließlich, dass es an der Zeit sei, zu heiraten. Mit Hilfe seiner alten Freunde begab er sich auf die Suche nach einer passenden Frau und hatte schon bald in Takezoe Sumako jemanden gefunden, mit dem er sein Leben verbringen wollte. Doch bereits kurz nach der Hochzeit verließ er seine Frau wieder, um im abgelegenen Kumamoto eine Direktorenstelle an der Fifth Higher School anzutreten. Die schlechte Ausbildung der dortigen Lehrer, das viel zu kleine Budget und andere schwierige Umstände stellten eine große Herausforderung dar, die der ehrgeizige Kanō um keinen Preis der Welt versäumen wollte. Natürlich wollte der Judō-Meister in Kumamoto nicht nur Schulunterricht erteilen, sondern sah in seiner neuen Stelle vor allem die Möglichkeit, die Übung des judō in den abgelegenen Provinzen Japans zu verbreiten. Daher begann er sofort nach seiner Ankunft judō zu unterrichten. Anfangs mussten seine Schüler bei Wind und Wetter im Freien zu trainieren, einige wohlgesonnene Eltern ermöglichten es jedoch, dass schon bald ein kleines dōjō errichtet werden konnte. Zusätzlich zur Einführung des judō in den Pflichtsport der Schule sorgte Kanō dafür, dass besser ausgebildete Lehrer eingestellt wurden, um das Bildungsniveau der Schüler zu erhöhen. Einer dieser neuen Lehrer war Lafcadio Hearn (1850 - 1904), der sich aufgrund seines Interesses für die alte Kultur Japans und die Kunst des jūjutsu glänzend mit Kanō verstand. In einem Buch, das 1892 unter dem Titel „Out of the East“ veröffentlicht wurde, präsentiert Hearn eine Abhandlung über das jūjutsu, in der er dem japanischen Volk empfiehlt, sich die alten Ideologien der Kriegskunst zu nutze zu machen, wenn sie mit dem Westen verhandeln würden. Nach dreijähriger Amtszeit in Kumamoto stellte Kanō schließlich fest, dass ihm trotz aller Abwechslungen und Herausforderungen der Kōdōkan und seine Schüler in Tōkyō fehlten. Daher zögerte er nicht, als ihm 1893 dieses Mal an der First Higher School in Tōkyō eine Direktorenstellung angeboten wurde, und so kehrte er nach langer Abwesenheit schließlich zu seiner Frau Sumako zurück. In den folgenden Jahren sollten die beiden insgesamt acht Kinder bekommen, fünf Mädchen und drei Jungen.

Ungeachtet von Kanōs Abwesenheit und Dank der Bemühungen Tomitas, hatte sich der Kōdōkan weiter vergrößert. 1894 war die Zahl der Mitglieder wiederum so sehr angewachsen, dass das alte dōjō endgültig zu klein wurde, und der Judō-Meister gezwungen war, in Shimo Tomizaka cho eine 100m² große Trainingshalle zu bauen. Trotz zahlreicher Gönner konnten die anfallenden Kosten jedoch nicht gedeckt werden, und zum ersten Mal seit der Gründung des Kōdōkan mussten die Mitglieder monatliche Gebühren entrichten. Der kurz darauf folgende Ausbruch des Sino-Japanischen Kriegs brachte dem Kōdōkan einen neuen Aufschwung in den Mitgliederzahlen, wodurch die finanzielle Not beendet werden konnte. Vor allem viele junge Leute wurden von dem Kriegsfieber angesteckt, und sahen im Judō-Training eine Chance, richtiges und effektives Kämpfen zu lernen. Kanō Jigorō missbilligte jedoch als einer der wenigen Budō-Meister die fanatische Begeisterung der Japaner für diesen Krieg und hörte nie auf, dessen Befürworter zu kritisieren. In etwa während dieser Zeit ereignete sich im Kōdōkan ein Vorfall, der seine Mitglieder in große Verlegenheit brachte. In ganz Japan waren als Folge des Krieges die Lebensmittel knapp geworden und ein großer Teil der Bevölkerung sah sich gezwungen, ihr tägliches Brot zu stehlen. Eines Nachts wurde auch der Kōdōkan von einem solchen Dieb heimgesucht, doch entdeckten die Schüler erst am nächsten Morgen das Fehlen ihrer Nahrungsmittel. Voller Empörung mussten sie feststellen, dass sie der geheimnisvolle Räuber auch in den darauffolgenden Nächten heimsuchte, und man beschloss, mehrere fortgeschrittene Schüler als Wachen aufzustellen. Tatsächlich konnten diese in der kommenden Nacht den unverschämten Dieb, der in der Verkleidung eines Ninja steckte, auf frischer Tat ertappen. Als sie in jedoch ergreifen wollten, schlug dieser sie erbarmungslos zusammen und spottete: „Besitzt der Kōdōkan nur bemittleidenswerte Schwächlinge, denen es noch nicht einmal gelingt, richtig Wache zu stehen?“ Dieser peinliche Vorfall beunruhigte die Mitglieder des Kōdōkan sehr - ein Prestigeverlust wäre vorprogrammiert, käme diese Sache an die Öffentlichkeit. Daher beschloss man, Yokoyama Sakujiro, einen Jūjutsu-Meister und treuen Schüler des Kōdōkan, um Hilfe zu bitten, dessen außergewöhnliche kämpferische Fähigkeiten ihm schon vor langem den Spitznamen „Dämon“ eingebracht hatten. Nachdem Saigo Shiro den Kōdōkan verlassen hatte, war es stets Yokoyama gewesen, der das judō durch seine Kampfkraft vertreten musste und sein vernichtender tengu nage hatte ihm im jūjutsu zu einem bedeutenden Ruf verholfen. Den Dieb erwartete nach Ansicht der Kōdōkan-Schüler in dieser Nacht somit eine böse Überraschung. Tatsächlich kam es zwischen den beiden zu einem harten Kampf, doch gelang es keinem, seinen Gegner zu besiegen. Schließlich gab der Räuber auf, floh aus dem Kōdōkan und kehrte nie mehr zurück. Yokoyama meinte später, dass sein Gegner ohne Zweifel in den Techniken des chinesischen kempō (kenpō - 拳法 japanische Bezeichnung für das chinesische quánfǎ) ausgebildet gewesen sei.

Verbreitung in der westlichen Welt

Seit seiner Gründung 1882 hatte das Kōdōkan-Judō unter Kanō Jigorō viele Veränderungen durchgemacht. Die unaufhörlichen Studien des Judō-Meisters selbst, seine praktischen Erfahrungen und der Einfluss von außen, hatten dazu beigetragen, dass sich die Kampfkunst beständig weiterentwickelte. Im Jahr 1895 beschloss Kanō schließlich, ein Unterrichtskonzept zu gründen, das die charakteristischen Techniken des judō enthielt und seinen Übungsleitern als Richtlinie dienen sollte. Zusammen mit den Meistern Nagaoka Hide-katsu, Yamashita Yoshiaki und Yokoyama Sakujiro arbeitete er fünf Unterrichtsformen aus, die als gokyo no waza im Lehrsystem aufgenommen und bis heute nur geringfügig verändert wurden. Ein Jahr später wurde den täglichen Übungen dann zusätzlich noch das shochu geiko beigefügt, ein Training im Sommer, das in seinem Aufbau den Gegenpart zu dem schon länger existierenden Wintertraining bilden sollte.

In den darauffolgenden Jahrzehnten begann das Kōdōkan-Judō sich unaufhaltsam in der ganzen Welt zu verbreiten. Schon 1892 war Judō durch einen Schüler des Kōdōkan namens Takashima Shidachi in Europa vorgestellt worden, als dieser vor der japanischen Gesellschaft in London einen Vortrag über die Geschichte und die Entstehung der neu entwickelten Kampfkunst hielt. Als Kanō Jigorō 1902 im Auftrag des japanischen Erziehungsministeriums, für das er seit 1893 arbeitete, nach China reiste, um die dortigen Bildungseinrichtungen zu inspiziren, wurde auch das Interesse vieler chinesischer Studenten am judō geweckt, die im Nachhinein als Austauschschüler am Kōdōkan zu üben begannen. Auch hatten sich zu diesem Zeitpunkt bereits viele Schwarzgurte anderer Schulen dem Kōdōkan angeschlossen, so dass man beschloss, dafür eine eigene Vereinigung zu gründen, die allen dem Kōdōkan angeschlossenen Dan-Trägern zu einem offiziellerem Ansehen verhelfen und zugleich die Interessen des Kōdōkan (auch von der finanziellen Seite) wahren sollte. Man nannte diese Vereinigung Kodokan Dan Grade Holder Association und meldete sie 1900 offiziell bei den zuständigen Behörden an.

Schließlich wurden auch die ausländische Geschäftswelt auf Kanōs neuen Kampfsport aufmerksam, und im Jahre 1903 bat sogar ein amerikanischer Geschäftsmann namens Samuel Hill den Kōdōkan, einen seiner Lehrer in die USA zu schicken, um seinen Sohn im judō zu unterrichten. Die Wahl fiel auf Yamashita Yoshiaki, zu diesem Zeitpunkt einer der wenigen 10. Dan des Kōdōkan, der zu Kanos engsten Schülern gehörte. Unglücklicherweise musste Yamashita bei seiner Ankunft in Amerika jedoch feststellen, dass die Ehefrau Hills seine Anwesenheit nicht duldete, da ihrer Meinung nach judō „brutal und gewaltbereit“ sei. Dem peinlich berührten Hill gelang es daraufhin, Präsident Roosevelt für das Kōdōkan-Judō zu begeistern, und Yamashita durfte vor den Mitgliedern des Weißen Hauses eine Demonstration seiner Kunst geben. In einem sehr kurzen Wettkampf besiegte der Judō-Lehrer einen berühmten amerikanischen Ringer und wurde im Anschluss daran von Roosevelt als Nahkampflehrer an der U.S. Naval Academy mit einem Gehalt von 5000$ im Monat eingestellt. Zwei Jahre lang unterrichtete Yamashita zusammen mit seiner Frau in den USA, kehrte jedoch dann nach Japan zurück, um auch anderen Instruktoren den Weg in den Westen frei zu machen.

Die nächsten beiden Judō-Lehrer, die von Kanō ausgewählt wurden, um Yamashitas Arbeit in Amerika fortzusetzen, waren dann Tomita Tsunejiro und Maeda Mitsuyo. Kanō hatte sich für die beiden entschieden, weil er sich aus der Kombination von Tomitas sanftmütigem Intellekt und Maedas Kampfstärke eine positive Darstellung des judō versprach. Vorab wurde klar ausgemacht, dass die beiden sich nur entsprechend ihrer Fähigkeiten in der Öffentlichkeit vertreten sollten, d.h. Tomita sollte keine Herausforderungen annehmen, während Maeda die Gesprächsführung seinem Partner zu überlassen hatte. Tomita, Kanōs ältester Schüler, war auf dem Gebiet der Theorie sehr gut, konnte aber im Kampf gegen Herausforderer nicht bestehen. Aus diesem Grund sollte ihn Maeda, einer der stärksten Kämpfer des Kōdōkan begleiten, um mögliche Herausforderern zu begegnen. Als Tomita aber, von einem amerikanischen Kämpfer gereitzt, dessen Herausforderung dennoch annahm und vor Präsident Roosevelt eine peinliche Niederlage erlitt, verließ er beschämt die USA und kehrte nach Japan zurück. „Der Judō-Lehrer hatte heute einen schlechten Tag“ soll der Präsident gesagt haben, doch es war klar, dass diese Niederlage nicht nur Tomitas persönliche Angelegenheit war, sondern das Ansehen des Kōdōkan-Judō in den USA hart traf. In der Tat eröffnete diese Begebenheit anderen japanischen Kampfkünsten Tür und Tor - unter anderen dem aikijutsu und einige Jahre später dem okinawanischen karate.

Der Verfall der Kampfkunstideale

Sofort wurde auch Maeda an den Kōdōkan zurückgeordert, doch sein Ehrgeiz und verletzter Stolz veranlassten den jungen jūdōka dazu, Kanō den Gehorsam zu verweigern. Er konnte es nicht ertragen, diese beschämende Angelegenheit auf sich sitzen zu lassen und beschloss, der Öffentlichkeit die Effizienz des Kōdōkan-Jūdō eigenständig zu beweisen. Innerhalb weniger Jahre hatte er sich ein ungeheuer starkes Kampfsystem antrainiert, mit dem er in über 1000 Wettkämpfen fast nie verlor und bald unter dem Namen „Conte Comte“ (Graf Wettkampf) bekannt wurde.

Im Jahr 1906 erhielt die Kampfkunst Kanōs schließlich auch ihren Einzug in Deutschland. Zuerst hatten Beamte der japanischen Handelsmarine Jūjutsu-Techniken bei einem ihrer Aufenthalte in Kiel vorgestellt und mit ihrer Demonstration großes Aufsehen erregt. Als sie nach dem Namen ihrer Kunst gefragt wurden, antworteten sie zwar „jūjutsu“, doch was sie zeigten war den Techniken der kurz darauf angereisten japanischen Jūdō-Meistern so sehr ähnlich, dass diese kein Problem hatten, die bereits vorhandene Popularität zu ihren Gunsten zu nutzen. Schließlich eröffnete Erich Rahn noch im selben Jahr die erste deutsche Jūdō- und Jūjutsu-Schule und begann, die Kunst im ganzen Land zu verbreiten. Einer seiner besten Schüler, Alfred Rhode, gründete später ebenfalls eine Jūjutsu-Schule, und zusammen machten sich beide an die Aufgabe, das jūjutsu systematisch an das wettkampffähige jūdō anzupassen.

Natürlich blieb diese stets wachsende Verbreitung des Kōdōkan-Jūdō auch in Japan nicht ohne Folgen. Aus der ganzen Welt kamen Schüler in den Kōdōkan, um sich in der mittlerweile populärsten Kampfkunst Japans ausbilden zu lassen. Diesem Ansturm an Schülern war das damalige dōjō in Shimo Tomizaka cho bald nicht mehr gewachsen, und Kanō musste seinen Einfluss geltend machen, um den Kōdōkan zu erweitern. Während dieser Zeit fiel auch den japanischen Behörden das große internationale Interesse an diesem Kampfsport auf, und nachdem das jūdō schon 1890 mit Hilfe von Dr. Baelz in das Erziehungsprogramm vieler japanischen Schulen aufgenommen worden war, bestimmte die Regierung 1908, dass jūdō und kendō an allen Mittel- und Hochschulen zum Pflichtfach wurde.

1921 wurde dann eine Gesellschaft (Judo Medical Research Society) gegründet, deren besondere Aufgabe es war, sich mit den erzieherischen Aspekten des Judo als Schulsport zu beschäftigen. Aufgrund der von dieser Vereinigung geleisteten Arbeit in den kommenden Jahren verlieh der japanische Kaiser dem Judō-Begründer Kanō Jigorō 14 Jahre später den Asahi-Preis als Auszeichnung für seine Bemühungen um die Erziehung der japanischen Jugend durch den Sport. Unbeabsichtigt hatte Kanō dafür gesorgt, dass seine Kreation den ersten Schritt zur Verflachung eines alten Ideals gemacht hatte und nunmehr massengerecht aufbereitet seinen Siegeszug um die ganze Welt hielt. Anerkannte Kampfkunstforscher beschreiben rückblickend Kanos Initiative forlgendermaßen:

„Kanos Beispiel war ein Freibrief für all jene ihm nachfolgenden Manager, die die hohen Werte der klassischen Kampfkünste als ein für die Massen zurechtgemachtes Gemisch aus Pseudophilosophie und Sensation zu verkaufen begannen. Noch nie dagewesene Oberflächlichkeit machte sich in all jenen Kampfkünsten breit, die den gleichen Weg der totalen Vermarktung gingen. Kanos Beispiel machte Schule und etablierte zum ersten Mal weltweit Kampfkunstlehrer ohne Ideologie und Inhalt, die nur Formperfektion und Wettkampfleistung unterrichteten. Keineswegs erstreckten sich diese Praktiken nur auf das Judo, obwohl sie besonders dort eine beispiellose Ignoranz entwickelten. Es entstanden große Organisationen, die ihre Legi-timation durch die Quantität der Massen erhielten und die eigentlichen Lehrer den Bedingungen der Marktgesetze unterwarfen. Als immer weniger Meister bereit waren, den Markterfolg vor den Inhalt zu stellen, schufen sich die Wettkampforganisationen eigene Lehrer, und verbreiteten ihre Konzepte ohne Autorisation durch die Großmeister weiter. Philosophen, Demokraten, Ethiker, Sozialpädagogen und andere begannen die alte Budo-Lehre mit ihren Ansichten zu unterwandern und entfernten daraus alles, was dem Markt zu anstrengen, zu schwierig und zu langwierig war. Was übrig blieb, war ein körperliches Training, dessen Re-sultate im Wettkampf gemessen werden könnten. Die Massen forderten ihren Tribut und zwingen heute - mehr als je zuvor - jede Sinngebung in ein niedrigst geistiges Niveau, in dem nur der Anspruch auf ehemalige Werte geblieben ist.“

Obwohl Kanō erst 35 Jahre alt war, hörte er zu diesem Zeitpunkt mit dem Training auf und widmete sich vollständig der Politik und der Verbreitung des judō. Mit seiner Wahl zum ersten japanischen Mitglied des International Olympic Comitee (IOC) im Jahre 1909 und seiner Ernennung zum Vorsitzenden der Japan Athletic Association (JAA) im Jahre 1911 zog er sich vollständig aus der Trainingsführung am Kōdōkan zurück und verbrachte die weiteren Jahre seines Lebens mit Konferenzen, Reisen und Vorlesungen. In dieser Position beantragte er bereits im Jahr 1913 beim IOC, Tōkyō als Austragungsort für die Olympiade 1940 zu berücksichtigen, und leistete Zeit seines Lebens eine enorme Überzeugungsarbeit, die später seinen Kampfsport als olympische Disziplin etablieren sollte. Doch trotz seiner politischen Macht, die er als Sportfunktionär im Auftrag der japanischen Regierung zweifellos besaß, kritisierte er öffentlich in verschiedenen Schreiben immer wieder die wachsende Überbewertung der Wettkampfleistung bei sportlichen Veranstaltungen und wies darauf hin, dass judō zu einer primitiven Sportart verkommen werde, wenn der Wettkampfgedanke wichtiger als der Inhalt sei. Unverständlich ist, in anbetracht dieser seiner Meinungen, sein vehementer Kampf um die Integration des judō in die olympischen Disziplinen. Seine permanenten Mahnungen widersprachen seinen ehrgeizigen Handlungen, durch die er selbst das verfolgte, was er bei anderen kritisierte. Die Klassiker der japanischen Kampfkünste betrachteten ihn Zeit seines Lebens als einen Scharlatan - er predigte Werte, die weder er noch der Kōdōkan respektierten und opferte sie bedenkenlos zugunsten des Erfolg. Obwohl er wusste, dass der Geist eines in die olympischen Spiele integrierten judō unwiederbringlich sterben würde, gab es für ihn kein anderes Ziel, das er enthusiastischer verfolgte als dieses.

Tatsächlich sollten jene, von vielen klassischen Meistern angemeldeten Bedenken, schon wenige Jahre nach Kanōs Tod wahr werden. Kurz nachdem judō 1945 Teil der olympischen Spiele geworden war, sorgten die Wettkampfregeln des IOC dafür, dass judō zu einem inhaltlosen Sport wurde, dessen Anhänger allein den Sieg als Ziel vor Augen hatten. Als der Holländer Anton Geesing den ungläubigen Japanern zum ersten mal bei einer Olypiade demonstrierte, das sportliche Leistung in der Technik von jeder Nation der Erde erreicht werden kann und dazu weder ein Meister, noch ein inhaltlicher Wert notwendig ist, war die Rückkehr zu den alten Werten nicht mehr möglich. Das judō hatte sich als Kampfkunst aufgegeben und war zum Sport geworden. Heute gibt es weltweit kaum ein Judō-Dōjō, das sich außer dem reinen Wettkampgedanken noch alten Traditionen und Idealen widmet. Damit war Kanō der Vorreiter für die Umwandlung aller klassischen Werte des budō in die Oberflächlichkeit der modernen Konsumgesellschaften.

Eine ähnlich zwiegespaltene Einstellung wie später zum IOC hatte Kanō bereits vorher bezüglich der Kriege Japans gegen China (1894 - 1895) und Russland (1904 - 1905), in dem viele seiner Schüler starben. Ideologisch war er gegen jede Art von Kriegsführung, doch sein Herz schlug für ein starkes und nationalistisches Japan, das zu jener Zeit bei der gesamten japanischen Bevölkerung als hoch angesehene Ideologie galt. Aus diesem Grund versuchte er auch den geschichtlich bewiesenen chinesischen Einfluss auf die japanischen Kampfkünste zu leugnen und folgte damit einer politischen Strömung, die später alle traditionellen Budō-Arten (besonders das okinawanische Karate) von ihrem Ursprung entfernen sollte. Dennoch kritisierte er bei jeder Gelegenheit die Begeisterung der Japaner für die Kriege auf dem asiatischen Festland und sagte einmal öffentlich:

„Verzehrt Euch nicht im Selbstvertrauen der Siege über Rußland und China. China besiegte sich aufgrund einer hoffnungslos korrupten Regierung und schlecht ausgebildeter Armeen selbst. Rußland konnte die weit entfernte Front im fernen Osten nicht versorgen - wenn der Krieg in der Nähe Moskaus geführt worden wäre, hätte das Ergebnis ein völlig anderes sein können. Krieg ist niemals eine gute Sache und unaufhörliches Kämpfen wird letztendlich zur Niederlage Japans führen.“

In vielen Aussagen, die Kanō innerhalb seiner letzten Lebensjahre machte, in denen er sich um die Verbreitung und Anerkennung des judō in der Welt bemühte, ist klar zu erkennen, dass sich der Judō-Meister sehr wohl der Gefahr der Verflachung der Kampfkunstinhalte bewusst war und keineswegs irrtümlich gehandelt hat. Doch wenn man heute auf die damalige Situation zurückblickt, wird deutlich, dass er zwar gezwungenermaßen das eine für das andere opfern musste, aber der persönliche Erfolg für ihn immer vor allem anderen stand. Nur wo der persönliche Erfolg nicht gefährdet war, räumte er Kompromisse zu alten Werten ein und gründete für seine Kunst ein ansehnliches Gebäude ethischer Verhaltensregeln, die jedoch selbst zu seinen Lebzeiten nur wenig Anwendung fanden und heute kaum einem Judō-Lehrer bekannt sind. Hier befand er sich in einem entscheidenden Widerspruch zu Funakoshi, der Demut nicht predigte, sondern vorlebte und zu Ueshiba, der Kampfkunstphilosophie auf fanatische Weise durch sich selbst bezeugte. Im Gegensatz zu diesen beiden und den meisten anderen Kampfkunstmeistern war Kanō ein Mensch, dem der eigentliche Glaube an die Wahrheit seiner vertretenen Lehre fehlte, der aber immer wusste, wie er sich zu verkaufen hatte und so ein Lebenswerk hinterließ, das im japanischen budō bis heute unerreicht ist. Mit diesem Hintergrund wurde im Jahre 1922 wohl auch die kodokan bunka kai (Kodokan Culture Assotiation) gegründet, deren Hauptziel es war, die Forschungen Kanōs zu unterstützen und die Lehre des Kōdōkan für alle Zeiten zu bewahren. In der speziell veröffentlichten Satzung dieser Vereinigung heißt es:

„Unsere Vereinigung strebt das Ziel an, das Wohl aller Menschen in völliger Übereinstimmung mit den Prinzipien des Seiryuko zu fördern. Basierend auf diesem Vorsatz lehren wir:

  1. Persönlich: eine Methode, dem Körper zu einer robusten Konstitution durch Training zu verhelfen, den Intellekt und das Moralempfinden zu kultivieren und insgesamt danach zu streben, ein wertvoller Teil der Gesellschaft zu sein.
  2. National: die nationale Einheit unserer Nation zu respektieren und gewissenhaft zu fördern, ihre Geschichte zu achten, und alles zu tun, was für das Wohlergehen unserer Nation notwendig ist.
  3. Gesellschaftlich: in der Gesellschaft eine vollkommene zwischenmenschliche Harmonie durch gegenseitige Hilfe und Verständnis zwischen den einzelnen und innnerhalb der Gemeinschaft zu schaffen.
  4. Kosmopolitisch: die Welt von rassistischen Vorurteilen zu befreien und alle Menschen dazu anzuhalten, ihre jeweiligen Kulturen zu bewahren und zur Weiterentwicklung der gesamten Menscheit beizutragen.

Im judō waren all diese hohen Ziele zumeist nur leere Worte und ganz anders als z.B. im aikidō, nie Inhalte einer tatsächlichen Lehre - daher ist es eigentlich auch nicht verwunderlich, warum sie heute nicht mehr existieren. Obwohl auch die meisten anderen japanischen Kampfkünste durch den Einfluss der moderner Organisationen ihre Inhalte aufgegeben haben, leben sie doch in einzelnen Kampfkunstübenden fort und sind im Begriff sich neu zu definieren. Das judō hingegen hat seinen Weg als Sport unumkehrbar eingeschlagen. Wie anders könnte man sonst seine moderne Darstellungsweise durch die Brille seines Begründers betrachten, der sagte: „Der ureigentliche Sinn des Judo ist zugleich auch der ureigentliche Sinn der Menscheit - geistig zu reifen, um der Allgemeinheit von Nutzen zu sein. Diese beiden Wege scheinen sich auf den ersten Blick nicht miteinander zu vereinbaren, doch in Wirklichkeit ergänzen sie sich sehr gut. Nur jener, der die Perfektion in Bezug auf sich selbst erreicht hat, kann für die Gesellschaft von Nutzen sein.“ (Yuko no katsudo, 1919)

Kanōs Kontakt zu anderen Kampfkunstmeistern

Schon während der Entwicklungszeit des Kōdōkan-Jūdō interessierte sich Kanō immer mehr für klassische Kampfkunstkonzepte und deren hintergründige Inhalte. Die Begegnung mit Saigo Shiro hatte ihm gleich zu Anfang gezeigt, dass viele Prinzipien aus anderen Kampfkünsten das unreife Konzept des jūdō verbessern und bereichern konnten, und daher versuchte der Jūdō-Begründer anhaltend Verbindungen zu klassischen Lehrern zu knüpfen, die seine Sichtweise erweitern und ihm helfen konnten, sein Systeme zu stabilisieren. Saigo war ein Kämpfer, aber kein Meister des daito ryū und konnte ihm in allen anderen Gebieten der Technik, die nur für Stilvorstände zugänglich waren, keinerlei Hilfen geben. Besonders die Mythen über die geheimnisumwitterten Vitalpunkttechniken des okinawanischen karate hatten es Kanō angetan, dessen Prinzipien seiner Ansicht nach das Konzept jūdō ungemein bereichern würden. Kanō selbst hatte sich schon längere Zeit mit dem Studium solcher und ähnlicher Prinzipien befasst, doch da ihm aufgrund seiner kurzen Anwesenheit in klassischen dōjō nie der Zugang zu Hintergründen ermöglicht wurde, kam er schon bald an einen Punkt, an dem er ohne Anweisung nicht weiter studieren konnte. Doch er wusste, dass sein System leer war und trotz seiner Bemühungen um philosophische Ideale im Vergleich mit den klassischen Stilen nie überleben würde.

Tatsächlich hat Kanō zeit seines Lebens auch keinen Lehrer gefunden, der bereit war, ihm diese Geheimnisse preiszugeben. Seine Position, als politisch hochetablierter Kampfkunstvertreter erlaubte ihm kein Schülerdasein - eine Grundbedingung, die es seit 2000 Jahren in allen asiatischen Wegausbildungen gibt. Der frühzeitige Abbruch seines Schülertums, seine ehrgeizige Konfrontation um Recht und Unrecht mit seinem Lehrer und sein Schritt zum Unterricht ohne Lizenz, ließen ihm keinen anderen Weg offen, als den der Vermarktung seines Systems als Sport. Obwohl Ueshiba einen ähnlichen Weg ging, unterschied dieser sich von Kanō dadurch, dass er einen Glauben und ein Konzept hatte, durch das er seine Lehre vertrat. Auch war er zeit seines Lebens ein Schüler Deguchis, der ihm den notwendigen Halt und Inhalt gab - und nicht zuletzt gab es im Kōdōkan auch nur im Entferntesten für Ueshiba einen ebenbürtigen Gegner.

All diese Gründe bewogen Kanō schließlich dazu, sich um die Bekanntschaft eines okinawanischen Karate-Meister zu bemühen und ihn in den Kōdōkan einzuladen, um vielleicht auf diesem Weg die lang begehrten Anleitungen zu erhalten - Funakoshi Gichin. Zu Kanōs großem Bedauern lehnte es Funakoshi zu diesem Zeitpunkt jedoch ab, Okinawa zu verlassen, da er wie er sagte, neben der eigenen Übung momentan keine Zeit für andere Studien habe. Doch wenige Jahre danach (1921) gelang es Kanō schließlich, Funakoshi zu einer Demonstration seiner Kunst im Kōdōkan zu überreden. Meister Funakoshi hielt sich zu diesem Zeitpunkt gerade anlässlich einer großen Kampfkunstdemonstration in Tōkyō auf, wo er als Vertreter des okinawanischen karate zum Zeichen der neugeborenen Freundschaft mit den japanischen Besatzern seines Landes die lang geheimgehaltene Kunst des Kämpfens mit der leeren Hand vorgestellt hatte. Kanō, der ebenfalls an dem Spektakel teilnahm, war von der Darbietung Funakoshis fasziniert, und sprach den Karate-Meister im Anschluss an die Vorführungen persönlich an. Im Laufe des Gespräches bat er Funakoshi darum, einer Vorführung seiner Kunst am Kōdōkan zuzustimmen. Dieses Mal nahm Funakoshi die Einladung an und versprach, zusammen mit seinem Assistenten namens Gima Shinken, am Kōdōkan die Prinzipien seiner Kampfkunst zu erläutern. Zur großen Überraschung des Karate-Meisters, sollte sich dieses Treffen jedoch als eine Großveranstaltung vor über 250 eingeladenen Gästen entpuppen, da Kanō wichtige Persönlichkeiten aus Politik, Wirtschaft und anderen Kampfkunststilen geladen hatte. Wie nicht anders erwartet, fanden Meister Funakoshis Erklärungen so großen Anklang, dass die beiden Meister im Anschluss noch mehrere Tage miteinander mit gemeinsamen Studien verbrachten. Im Laufe dieser Zeit sollte sich zwischen Funakoshi und Kanō eine innige Freundschaft entwickeln, die bis zum Tode Kanōs und darüber hinaus andauerte. Für den bescheidenen Funakoshi war Kanō das Sinnbild des japanischen budō und selbst nach Kanōs Tod ließ Funakoshi es sich nie nehmen, wann immer er am Gebäude des Kōdōkan vorüberging, sich in Respekt und Demut vor dem Lebenswerk seines Freundes zu verbeugen.

Im Jahr 1927 hatte Kanō endlich genügend Freiraum zwischen seinen offiziellen Reisen, um eine Fahrt nach Okinawa zu unternehmen. Dort wollte er sowohl sein Wissen über die Prinzipien des karate vertiefen als auch die okinawanische Kultur studieren. Die Mitgliederorganisation des Kōdōkan, der Okinawa Judo Yudansha kai hatte den Jūdō-Meister eingeladen, um von ihm zu lernen und die guten Verbindungen der Insel zum Festland zu fördern. Kanōs Einladung nach Okinawa enthielt als Ausgleich zu dessen dortigem Judō-Unterricht auch das Angebot der Demonstration verschiedener okinawanischer Kampfkunstmeister, was ihm die Gelegenheit gab, seine lang ersehnten Kontakte zum karate zu vertiefen und die okinawanische Kampfkunstszene kennenzulernen. Einer der Vorführenden war Miyagi Chōjun, dessen Darstellung des okinawanischen karate auf Kanō einen großen Eindruck machte. Schon während der Studien mit Funakoshi hatte der Jūdō-Meister erkannt, dass das karate ganz im Gegensatz zu seiner ursprünglichen Meinung viel mehr Prinzipien in sich verband als das bloße Schlagen und Treten. Miyagi unterstrich und vertiefte mit seiner Demonstration diese Erkenntnis, und der faszinierte Jūdō-Meister eilte bei der ersten Gelegenheit, die sich ihm bot, zu dem Karate-Meister, um ihn über seine Prinzipien zu befragen. In den darauffolgenden Tagen verbrachte Kanō seine gesamte freie Zeit damit, um von Miyagi die Techniken des ne waza (Bodentechniken), nage waza (Wurftechniken), shime waza (Würgetechniken) und gyaku waza (Hebeltechniken) erklärt zu bekommen. Für den Jūdō-Meister waren diese neuen Prinzipien von so großem Wert, dass er beschloss, nicht wie ursprünglich geplant, nach Taiwan weiterzureisen, sondern einen Abstecher nach Shanghai zu machen, um sich dort intensiv mit dem Karate-Ursprung aus chinesischer Perspektive zu beschäftigen. Später schrieb der Jūdō-Meister einen innigen Brief an Miyagi, in dem er ihm für seine unermessliche Großzügigkeit dankte, die ihm neue Perspektiven in seinem eigenen Konzept ermöglicht hatten.

Kurz nach seiner Rückkehr aus China, kamen Kanō schließlich Gerüchte von einem Kampfkunstmeister namens Ueshiba Morihei zu Ohren, dessen aikijutsu die Verkörperung der unbesiegbaren Kunst sei. Von der Effektivität des aikijutsu wusste der Jūdō-Meister von seinem Schüler Saigo Shiro - war es doch der im aikijutsu ausgebildete Saigo, der dem Kōdōkan den Ruf der Unbesiegbarkeit verschafft hatte. Eine Kontaktaufnahe mit Ueshiba erschien Kanō also als ideale Gelegenheit, endlich einen tieferen Einblick in die Hintergründe einer klassischen Kampfkunst zu erhalten. Mit diesem Hintergedanken versuchte er daraufhin Ueshiba, zu einem Besuch in den Kōdōkan zu bewegen. Doch der unnahbare Ueshiba lehnte diese und alle weiteren höflichen Einladungen Kanōs schroff ab und kümmerte sich nicht im Entferntesten darum, dass der Jūdō-Begründer an gesellschaftlicher Macht und Einfluss weit über ihm stand, sondern strafte ihn mit Verachtung. Nach einigen Jahren des vergeblichen Bemühens um Kontakt mit Ueshiba, entschloss sich Kanō kurzerhand, den Aikidō-Meister unangekündigt selbst aufzusuchen. Im Oktober 1930 reiste er zu Ueshibas Meijirodai dōjō, einer provisorischen Trainingshalle, die dieser damals benutzte, bis das Gebäude des Kobukan fertiggestellt wurde. Entgegen aller Erwartungen, die man aufgrund von Ueshibas sonstigem Verhalten annehmen musste, gestattete der Aikidō-Meister Kanō, bei einem Traininge zuzusehen und gab sogar eine kleine Demonstration seiner Kunst. Der Judō-Meister war begeistert. Die Art und Weise wie sich Ueshiba bewegte, die Prinzipien seiner Techniken und die Ausführung seiner Formen waren genau das, was Kanō seit Jahren zu realisieren versuchte, und er sagte in Anwesenheit aller Schüler „Dies ist mein ideales Budo“, ein Satz der später in die Kampfkunstgeschichte eingehen sollte. Diesem Besuch bei Ueshiba folgten noch einige andere, und immer wieder betrachtete Kanō voller Euphorie und Faszination die Systeme des aikijutsu. Auch viele seiner Schüler waren von der Kampfkunst Ueshibas begeistert, und in den späteren Jahren traf der Jūdō-Meister einige jūdōka, die den Kōdōkan verlassen hatten, in Ueshibas dōjō wieder (unter anderem Mochizuki Minoru, Tomiki Kenji, Sugino Yoshio und Shioda Gozo). Doch trotz der Begeisterung Kanōs und seiner steten Besuche im Kobukan, wahrte Ueshiba Distanz zu dem Jūdō-Meister, verweigerte ihm die Freundschaft und seinen Schülern eine vollständige Ausbildung im aikidō. Nach Ansicht Ueshibas, hatte das judō keinerlei Wert, und Kanōs Bemühungen um Kontakt zu ihm wertete er als Versuch, sein Wissen und seine Erfahrungen zu kopieren um sie zu eigennützigen Zwecken verwenden zu können.

Die zweite Hälfte seines Lebens widmete Kanō Jigorō seinem politischen Ansehen, das er auf insgesamt 13 Weltreisen in Vorlesungen und Konferenzen durch die Verbreitung des jūdō ausbaute. Bereits 1938 hatte der Kōdōkan weltweit über 100.000 Dan-Träger und 1964 sollte jūdō zum ersten Mal olympische Disziplin werden. Unermüdlich kämpfte der Jūdō-Meister für dieses Ziel und reagierte zunehmend aggressiv, wenn ihn jemand fragte, ob ihn seine anhaltenden Konferenzen im Ausland nicht zu sehr anstrengten und er es nicht endlich auf sich beruhen lassen wolle. Ganz im Gegenteil genoss Kanō die verschiedenartigen Kulturen, das jeweils gute Essen (obwohl er die traditionelle japanische Küche am meisten schätzte) und war stets ein Liebhaber von einem guten Glas Wein. Rauchen hasste er und es wird erzählt, dass er manch wichtiger Konferenz fernblieb, wenn die Veranstalter das Rauchen nicht explizit verboten hatten.

Kurz vor seinem Tod musste Kanō feststellen, dass sich das judō in Zukunft zu einem reinen Wettkampfsport entwickeln würde. In Erinnerung an seine persönliche idealgebundene Jugend blickte er voller Wehmut auf das judō, wie es inzwischen weltweit geübt wurde und sagte gegen Ende seines Lebens: „Das heutige Judo hat zwei Wege eingeschlagen: es existiert ein sehr engstirniges Judo und ein sehr breites Judo. Das engstirnige Judo beschreibt die Übung im Dojo. Das breite Judo beinhaltet daneben auch die Anwendung der Prinzipien dieser Kampfkunst im alltäglichen Leben. In dieser Welt gibt es viele, die lehren, aber nur wenige, die diese Lehren verstehen und diejenigen, die diesen Lehren tatsächlich folgen sind sehr selten.“ Am 4. Mai 1938 starb er im Alter von 78 Jahren an einer Lungenentzündung auf seiner Rückreise von Kairo nach Tōkyō an Bord der S.S. Hikawa Maru.

Kanōs Lehre

Schon seit frühen Jahren war Kanō Jigorō auf der Suche nach einer Kampfkunst, die es einem ermöglicht, einen physisch stärkeren Gegner ohne großen Kraftaufwand auszuschalten. Als er 1877 schließlich mit der Übung des tenshin shinyo ryū (jūjutsu) begann, war er davon überzeugt, das richtige Konzept gefunden zu haben. Doch schon nach kurzer Zeit des Übens musste der Judō-Meister feststellen, dass die kriegerischen Aspekte des jūjutsu nicht ganz seinen Vorstellungen entsprachen. Auch der Wechsel zum kito ryū nach dem Tod seines Meisters führte ihn nicht an das Ziel seiner Suche. Zwar besaß das kito ryū im Gegensatz zum tenshin shinyo ryū neben der Technik auch viele philosophische Gesichtspunkte, es war jedoch immer noch stark von der kämpferischen Mentalität des alten jūjutsu geprägt. Aus diesem Grund entschloss sich Kanō nach einigen Jahren der Übung, eine Synthese dieser beiden Stile zu gründen, die neben der Technik auch den Lebensweg in den Kampfkünsten unterrichtete.

Seine Namenswahl des Stils (judō - sanfter Weg) sollte die neue Richtung charakterisieren, die er einschlug: Charakter- und Persönlichkeitsbildung durch die Übung des judō. Das Streben nach Idealen und die Erziehung des Geistes waren gleichbedeutend mit dem Training im dōjō und damit Aufgabe eines jeden Schülers. Als Basis für jede Übung sowohl innerhalb als auch außerhalb des normalen Trainings existierten die Prinzipien des (Nachgiebigkeit), die Kanō schon im kito- und tenshin shinyo ryū kennengelernt hatte und nun für das judō weiter verwendete.

Die drei wichtigsten Aspekte waren für ihn hierbei:

  • Jū no ri (Prinzip der Nachgiebigkeit): Der Schüler lernt anhand dieses Prinzips, wie er sich mit Hilfe seines Auftretens und seiner Handlung gegebenen Situationen anpassen kann. In einer Konfrontation bedeutete dies für Kanō Jigorō, dass man sich der Kraft seines Gegners nicht widersetzen, sondern dessen Handlungen derart zu seinem Vorteil nutzen sollte, dass dieser aus dem Gleichgewicht gebracht wird. Weiterhin lehrt jū no ri das Verhalten des einzelnen innerhalb der Gesellschaft. Allein Flexibilität, Kompromissbereitschaft und der Verzicht auf egoistische Ziele machen laut Kanō die Intergration in eine Gemeinschaft möglich und damit ein Leben mit vielen Menschen. In einer seiner selbstgegründeten kata (koshiki no kata) hat der Judō-Meister diese Prinzip zum Ausdruck gebracht.
  • Seiryoku zenryo (rationelle Verwendung der Energie): Diese Prinzip war damals auch in allen anderen Kampfkünsten die Basis der Systeme. Es lehrt, die eigene Energie so zu nutzen, dass mit dem geringsten Aufwand die bestmögliche Effizienz entwickelt werden kann. Kano hat dieses Prinzip aus dem kito ryū übernommen und auch auf das alltägliche Leben übertragen.
  • Jita-kyoei (gegenseitige Hilfe und Unterstützung): Auf den Urkunden, die Kanō seinen Schwarzgurten nach ihrer Prüfung übergab, stand ein Leitsatz, der dieses wichtige Prinzip seinen Schülern stets vor Augen führen sollte: „Nur durch gegenseitige Hilfen und Zugeständnisse kann ein Organismus, bestehend aus einer größeren Anzahl von Menschen, seine Harmonie finden, bewahren und Fortschritte machen.“

Diese Richtlinien beinhalteteten alle ein Konzept (Nachgeben und Widerstehen), das Kanōs eigentliche Lehre charakterisierte. In den Techniken offenbarte sich sein Prinzip in nage waza (Wurftechniken), ukemi waza (Techniken des Fallens) und ne waza (Bodentechniken), die Kanō zuerst mit Hilfe Saigo Shiros und später zusammen mit Meister Isogai Hajime in unaufhörlichen Studien und Testphasen perfektionierte. Die Anpassung an einen Gegner und die Verwendung von dessen Kraft bei der folgenden Gegenreaktion waren die Hauptaspekte in der praktischen Lehre, deren wesentlicher Inhalt der Judō-Meister in vereinfachter Form seinen Schülern einmal folgendermaßen erklärte:

„Nehmen wir einmal an, wir schätzen die Stärke eines Mannes auf 10 Einheiten, wobei meine eigene, die geringer als die seinige ist, sieben Einheiten beträgt. Wenn er mich jetz mit all seiner Kraft stößt, sollte ich eigentlich zurückgedrängt oder niedergeworfen werden und das sogar dann, wenn ich all meine Kraft gegen ihn aufwende. Dies würde geschehen, wenn man Kraft mit Kraft begegnet. Aber anstatt mich ihm entgegenzustellen, biete ich ihm keinen Widerstand und bewege meinen Körper exakt in die Richtung, in die er mich stößt, halte gleichzeitig mein Gleichgewicht und er wird sich automatisch nach vorne lehnen und seine Balance verlieren. In dieser neuen Stellung kann er so schwach werden (...), daß ich seine Stärke für diesen Augenblick von 10 auf drei Einheiten reduziert habe. Wenn ich dabei mein Gleichgewicht halte, verfüge ich für alle Fälle über meine ganze Stärke.

Wenn mein Gegner jedoch zum Beispiel mein Handgelenk ergreift und ich ihm jetzt keinen Widerstand leiste, gibt es keine Möglichkeit aus seinem Griff zu entkommen. (...) Das Prinzip des Nachgebens ist also nicht in allen Situationen anwendbar. Gibt es also überhaupt ein Prinzip, das immer anwendbar ist? Ja, und das ist das Prinzip der größten Effizienz im Gebrauch des Geistes und des Körpers. Die Regel des Nachgebens ist nur ein möglicher Teil der Anwendung dieser grundlegenden Lehre.“

Im Bereich des (Lebensweg) zählte vor allem die Übung eines flexiblen Geistes, der die Möglichkeit besitzt, rein körperliche Kraft zu kontrollieren. Kano bezeichnete diesen Aspekt als Rentai ho. In Anbetracht dieser Philosophie, sprach sich Kanō wiederholt gegen die Überbetonung des sportlichen Wettkampfs aus, der im klaren Gegensatz zu diesen Prinzipien stand. Der Rausschmiss seines besten Schülers Saigo Shiro aus dem Kōdōkan, ist ein gutes Beispiel für die Abneigung des Judō-Meisters gegenüber Prestige-Kämpfen - und dennoch kämpfte er für die Integration des judō in die olympischen Disziplinen. Immer wieder sah er sich nach einem Turnier, auf dem erneut das Gewinnen im Vordergrund stand genötigt, wütend seine Schüler zusammenzurufen und sie zurechtzuweisen: „Ihr habt gekämpft wie junge Bullen, die ihre Hörner aneinander stoßen. Ich habe keine einzige saubere und würdevolle Technik gesehen. Niemals habe ich gelehrt, das Kōdōkan-Jūdō so auszuüben. Wenn ihr denkt, daß man nur durch brutale Härte gewinnen kann, wird der Geist des Kōdōkan-Jūdō sterben.“

Um 1909, als Kanō für das IOC zu arbeiten begann, gerieten die geistigen Inhalte des judō noch mehr in Gefahr, durch die Überbetonung des sportlichen Charakters verloren zu gehen. Die einstigen Werte, die dem Judō-Meister bei der Gründung seiner Kampfkunst so wichtig waren, und deren Befolgung er zum Teil streng kontrollierte, waren bei den jüngeren Schülern von Konsumdenken und Gewinnsucht abgelöst worden. Das erfolgreiche Bestreiten eines Wettkampfs hatte von nun an mehr Bedeutung als die Übung des judō als Lebensweg. Tatsächlich lässt sich sagen, dass das judō seit dem Zeitpunkt, an dem Saigo Shiro den Kōdōkan verließ, unbeabsichtigt immer mehr zum Sport wurde. Die Kampfkraft Saigos und dessen Erfahrung auf dem Gebiet des daito ryū hatten dem Kōdōkan-Jūdō einen Ruf der Unbesiegbarkeit beigebracht, der nach seinem Weggang nicht mehr gehalten werden konnte und zu einer allmälichen Verflachung der Lehren führte. Gegen Ende seines Lebens begann sich der Wertverlust des Kōdōkan-Judō immer deutlicher zu offenbaren, und Kanō, der schon seit längerer Zeit voller Sorge diese Entwicklungen beobachtet hatte, entschloss sich, sechs Regeln aufzustellen, die seine ursprüngliche Vorstellung des judō erhalten sollten:

  1. Chikara hittatsu - Bemühen führt immer zum Ziel.
  2. Jita kyoei - gegenseitige Hilfe und Kooperation.
  3. Jundo seisho - der rechte Weg führt zum Ziel.
  4. Seiki ekisei - Fortschritt verpflichtet zum Lehren.
  5. Seiryoku saizen katsuyoi - geistige und körperliche Kraft.
  6. Shin shin jizai - geistige und körperliche Geschmeidigkeit.

Doch wusste der Jūdō-Meister sehr wohl, dass diese Regeln allein nicht genügten, um dem Kōdōkan-Jūdō seine alten Inhalte wiederzugeben. Daher begann er in der ganzen Welt umherzureisen, um mit der Werbung für seine Kunst auch Vorträge über die eigentliche Bedeutung seiner Kampfkunst zu halten. In einem dieser unzähligen Referate ermahnte Kanō seine anwesenden Übungsleiter, sich in ihrem Unterricht nicht nur auf das Training im dōjō zu beschränken, sondern mit ihren Schülern auch auf die philosophischen Aspekte des jūdō einzugehen:

„Judo wird über zwei Methoden gelehrt. Die eine bezeichnet man als randori, die andere als kata. (...) Ihr solltet dabei jedoch bedenken, daß es nicht möglich ist, die Fähigkeit zur größten Effizienz in jeder Bewegung allein durch die Übung der Kata und des randori im dōjō zu entwickeln. Man muß sich immer ins Bewußtsein rufen, diese Prinzipien auch in den Handlungen des täglichen Lebens zu üben, denn nur dann kann man die Fähigkeit erlangen, wie selbstverständlich die eigene Energie am effektivsten einzusetzen.“ (Yuko no katsudo, 1921)

Die Aufnahme des jūdō als olympische Disziplin durch das IOC sollte das eigentliche Kōdōkan-Jūdō schließlich vollständig vernichten. Kanō hatte schon in der Entwicklungsphase nach der Gründung seiner Kampfkunst viele Veränderungen vorgenommen, um das jūdō wettbewerbsfähiger zu machen. Es wurden bestimmte Formabläufe (kumi kata) entwickelt, die die Art und Weise vorschrieben, wie man seinen Gegner zu Fassens hatte, eine Grundstellung eingeführt, die vor jedem Kampf eingenommen werden musste und die verschiedene Würfe den Wettkampfbedingungen angepasst. Damit hatte der Jūdō-Meister natürlich die realistische Anwendung seiner Kampfkunst erheblich geschmälert, und als man ihn einmal zum kämpferischen Wert des jūdō befragte, gab Kanō offen zu, dass er die gefährlichen Techniken aus der allgemeinen Übung entfernt hatte, um sie für den Schulsport und Wettkampf tauglich zu machen. Tatsächlich übertrug der Jūdō-Meister alle Prinzipien des kyūshu (Techniken zu Vitalpunkten am Körper des Gegners) in die Übung der kata, um so zu sicherzustellen, dass die kämpferischen Aspekte, die er aus dem jūjutsu übernahm, teilweise erhalten blieben, aber nicht mehr direkt am Partner erübt werden mussten. Gleichzeitig wurden Atemi-Techniken (Schlagtechniken zu Vitalpunkten), Fußtritte und Gelenkhebel aus dem randori herausgenommen und nur höheren Rängen, die Kanō besonders nahe standen, zur Übung freigegeben.

Mifune Kyuzo

Durch diese Veränderungen hatte das jūdō natürlich viel an Realitätsbezogenheit verloren und war im Vergleich zum jūjutsu für die Selbstverteidigung kaum noch geeignet. Die strengen Vorschriften des IOC machten schließlich zudem einen Erhalt der inneren Werte des jūdō, die Kanō so wichtig gewesen waren, völlig unmöglich. Das Ziel eines Judō-Übenden ist heutzutage nur noch der Sieg und Erfolg in einem sportlichen Wettkampf und die damit verbundene Möglichkeit persönliches Prestige zu erlangen und nicht mehr die Charakter- und Persönlichkeitsbildung wie es bei Kanō der Fall war. Trotz dieser traurigen Entwicklung des jūdō und vieler anderer Kampfkünste, hat Kanō Jigorō in seiner Zeit einiges geleistet. Durch die Gründung des jūdō und dessen Einführung als Schulsport in Japan, hatte er das allgemeine Interesse der Bevölkerung und der Behörden an den Kampfkünsten geweckt und so einen großen Teil dazu beigetragen, dass diese überhaupt eine weltweite Verbreitung erfahren konnten. Zugleich sorgte sein Kampf um die Bedeutung und Erhaltung von Kampfkunstphilosophie und den Prinzipien zur Erübung einer „Einheit von Körper und Geist“ dafür, dass die alten Traditionen des (Kampfkunstweges) nicht in Vergessenheit gerieten. Ungeachtet dessen werfen viele Kritiker des jūdō (damals wie heute) Kanō vor, dass er bei der Verbreitung einer eigentlich ineffektiven und fehlerhaften Kampfkunst die Namen und Fähigkeiten anderer benutzt habe, um seine Ziele zu erreichen. Tatsächlich hatte Kanō Jigorōs ganze Ausbildungszeit im jūjutsu nicht wesentlich länger als vier Jahre gedauert und unter drei verschiedenen Lehrern, die zudem unterschiedliche Stile unterrichteten stattgefunden. In den Augen eines Kampfkunstlehrers war Kano daher eigentlich noch ein Anfänger, als er seine eigene Schule eröffnete und dort seine Auffassung des jūjutsu zu unterrichten begann. Alle später entwickelten Prinzipien des jūdō erarbeitete sich Kano mühsam selbst, und es ist daher nicht verwunderlich, dass das jūdō jahrelang viele Mängel aufwies und vielen Veränderungen unterlag. Diese Phasen durchwanderten zur damaligen Zeit jedoch viele der in Japan eingeführten Kampfkünste, daher war der eigentliche Kritikpunkt ein anderer: Der Jūdō-Meister hatte eine Kampfkunst gegründet, die fast gar nichts mehr mit den kämpferischen Prinzipien des alten jūjutsu gemein hatte und aufgrund ihrer Fehlerhaftigkeit von den Budō-Meistern nicht anerkannt wurde. Zudem hatte Kanō von keinem seiner Meister eine Lehrerlaubnis erhalten und war auch durch sich als Person nicht in der Lage zu überzeugen.

Um Schüler zu gewinnen und seine Kampfkunst in Japan verbreiten zu können, waren diese Dinge jedoch unabdinglich. Viele behaupten daher, dass sich Kanō absichtlich die Freundschaft bekannter Kampfkunstmeister wie Funakoshi Gichin, Miyagi Chōjun, Ueshiba Morihei und andere der damaligen Zeit erschlichen habe, um mit deren Namen das Prestige des jūdō zu heben. Auch soll sein bester Kämpfer, Saigo Shiro, dem allein es zu verdanken war, dass der Kōdōkan seinen Ruf der Unbesiegbarkeit erhielt, nicht aus Überzeugung für Kanōs Kampfkunst, sondern aus Liebe zu dessen Tochter Mitglied des Kōdōkan geworden sein. Außerdem beruhte Saigos Kampfkraft nicht auf den Techniken des jūdō, sondern auf seiner vorausgegangenen Ausbildung im daito ryu, durch seinen Adoptivvater Saigo Tanomo.

Kanōs Schüler

Im Laufe seines Lebens hatte Kanō Jigorō unzählige Schüler unterrichtet und sie in die Systme seiner Kampfkunst eingeführt. Viele hatten aus seiner Hand den Schwarzgurt erhalten und waren zu bekannten Vertretern des Kōdōkan-Jūdō geworden; andere hatten ihm den Rücken gekehrt, um sich einer anderen Kampfkunst zu widmen, die ihnen ihrer Meinung nach besser zusagte (vor allem im aikidō fanden sich viele ehemalige Schüler Kanōs). Einer der wichigsten und herausragenden Schüler des Jūdō-Meisters war wohl Saigo Shiro gewesen. Er hatte mit seiner Aikijutsu-Ausbildung neben Kanō entscheidend zur Entwicklung des Kōdōkan-Jūdō beigetragen, und seinen Fähigkeiten war es zu verdanken, dass diese Kampfkunst einen so guten Ruf erhalten hatte. Viele Meister aus anderen Stilen hatten Kanō Jigorō um eine Ausbildung im jūdō gebeten, nachdem sie von Saigo im Zweikampf besiegt worden waren, und bei jedem öffentlich ausgetragenen Wettkampf fügte Saigo rivalisierenden Schulen schmerzliche Niederlagen bei, die das Prestige des Kōdōkan immer weiter vergrößerten. – Um so größer waren später selbstverständlich auch die Schwierigkeiten des Kōdōkan, diese Prestige zu erhalten, nachdem Saigo die Schule verlassen musste.

Einer der bedeutensten und treusten Schüler Kanō Jigorōs, und später auch dessen Meisterschüler, war Mifune Kyuzo (1883 - 1965), der beste Techniker des Kōdōkan nach dem Weggang Saigos. Er wurde 1883 in Kuji geboren und kam zum ersten Mal im Sportunterricht am Gymnasium in Kontakt mit dem Jūdō. Die Eleganz dieser Kampfkunst faszinierte auf Anhieb so sehr, dass er sich im Alter von zwanzig Jahren am Kōdōkan einschreiben wollte. Zu diesem Zeitpunkt war es im Kōdōkan jedoch noch üblich, dass diejenigen, die von Kanō als Schüler aufgenommen werden wollten, einen hochgraduierten Jūdōka als Fürsprecher brauchten, der sich für sie bei Kanō einsetzte. Mifune bat also Yokoyama Sakujiro, den damalig stärksten Kämpfer des Kōdōkan, für ihn bei dem Jūdō-Meister vorzusprechen. Angeblich weigerte sich Yokoyama jedoch zunächst und erklärte sich erst dazu bereit, für Mifune zu sprechen, nachdem dieser mehrere Tage vor der Türschwelle seines Hauses übernachtet hatte. Schon wenige Jahre nach Mifunes Aufnahme in den Kōdōkan, zeigte sich dann immer deutlicher, dass dies der beste Schüler Kanōs werden sollte. Bereits 1905 erhielt er den 2. Dan, 1907 den 4. Und 1912, im Alter von 29 Jahren, war er als 6. Dan einer der herausragendsten Lehrer des Kōdōkan. Von Mifune erzählt man sich, dass seine große Kampfkraft vor allem auf eine spezielle Technik zurückzuführen war: ein Wurf (kuki nage – Luftwurf), dessen Timing und technische Ausführung Mifune so gut gemeistert hatte, dass kein Gegner in einem Zweikampf auch nur die geringste Chance hatte, länger als ein paar Augenblicke auf den Beinen zu bleiben.

Der eigentliche Nachfolger Kanōs war jedoch Nango Jiro, einer der wenigen 10. dan des Kōdōkan, der nach dem Tod seines Meisters die Leitung des Kōdōkan übernahm und diese bis 1946 behielt. In diesem Jahr zog er sich aufgrund seiner schlechten Gesundheit jedoch aus dem Vorstand zurück und übertrug die Leitung Kanōs Adoptivsohn Kanō Risei, der später auch der 1952 gegründeten International Judo Federation vorstand und 1949 die All Japan Judo Federation ins Leben rief.

Kanō Jigorō, der wohl mächtigste und einflussreichste Mann in der Geschichte des japanischen budō, war nie ein wirklicher Meister, sondern ein Manager mit Idealen, der es wie kein anderer verstand, die weltweite Öffentlichkeit zu seinen Gunsten zu beeinflussen. Er nutzte die neugeordnete japanische Gesellschaft und hatte vor allen anderen erkannt, das Inhalt und Sinn in der modernen Welt nicht wichtig sind, sondern nur die Form, in der etwas präsentiert wird. Sein Beispiel machte Schule - zuerst in Japan - wo großartige Manager verschiedener Kampfkünste es verstanden, durch ein ähnliches Konzept weltbekannt zu werden und Formen als Inhalte verkauften. Er wusste als erster, wie man Massen mobilisiert, die durch Quantität ein weltweites Ideal schaffen, das in Wahrheit keines ist. Er war der erste, der dem Volk erklärte, dass durch Konsum und Spaßhaben Inhalte verwirklicht werden können, und der seine Ideale, die er zweifellos hatte, für den Erfolg aufgab. Sein Beispiel machte Schule und hat in der ganzen Welt jene Kampfkunstorganisationen entstehen lassen die wir heute kennen: unfähig zum Sinn, aber mit Berufung darauf, dass die Kampfkünste einen hohen Wert beinhalten, den keiner ihrer Mitglieder erklären kann.

Studien Informationen

Siehe auch: Jūdō | Jūjutsu |

Literatur

  • John Corcoran, Emil Farkas: The Original Martial Arts Encyclopedia. Pro-Action Publishing.
  • Werner Lind: Okinawa Karate. Sportverlag Berlin 1997.
  • Julia Karzau: Drei Meister des Budo. Sportverlag Berlin 1998.
  • Werner Lind: Ostasiatische Kampfkünste - Das Lexikon, Sportverlag Berlin 1996.
  • Patrick Lombardo: Dictionnaire Encyclopedique des Arts Martiaux. Editions SEM.
  • John Stevens: Three Budo Masters. Kodansha International.

Weblinks