Hara

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Artikel von: Werner Lind<br.>Nachbearbeitet von:

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Den Begriff Hara (jap.: 腹 oder 腹), wird im japanischen Alltangsverständnis zunächst mit „Bauch“ (auch fukubu oder onaka) übersetzt und meint die Körpergegend vom Magen (I, 胃) bis einschließlich Unterleib (tanden). Über den körperlichen Begriff hinaus ist hara jedoch auch ein zentrales Prinzip der japanischen Lebensart, mit weitreichender Bedeutung im Alltag und in den Künsten (geidō).<br.>In China wird der verallgemeinernde Bauchbegriff nicht verwendet, dafür umso mehr das Prinzip dāntián (jap.: tanden), womit die Mitte (chin.: zhōng, jap.: naka) des hara bezeichnet wird. Die Bezeichnung hara ist in Japan ein Alltagsbegriff, der in der detallierten Betrachtung eigentlich das differenzierendere tanden meint.

Etymologie des Begriffes

Es gibt zwei kanji, mit denen man heute den Begriff schreiben kann. Beide bedeuten hara, doch in der näheren Betrachtung unterscheiden sie sich voneinander. Beide können in unterschiedlichen Übungen (qìgōng und bujutsu) zur Steigerung der inneren Vitalkraft (ki, chin.: ) oder der äußeren Wirkungskraft (jutsu) verwendet werden.

  1. Hara (肚, Erdmitte) - Im alten kanji für hara bedeutet das rechte Radikal „Erde“, das linke „geöffneter Körper“. Das Zeichen drückt sowohl die Zentriertheit als auch das Bodenverhaftete des Menschen im hara aus und wurde von Dürckheim kongenial als „Erdmitte“ übersetzt.
  2. Hara (腹, Bauch) - Die kalligraphische Deutung des neuen kanji von hara bezeichnet ein „Anschwellen des Körpers“ oder ein Behältnis, in dem alle lebenswichtigen Energien aufgenommen, kontrolliert und angewendet werden können.

Ausdrucksformen des Hara

Das körperliche Menschenbild ist in den weltlichen Kulturen von unterschiedlichen Mentalitäten geprägt. Im Westen begann durch die Lehren von Isaac Newton früh eine überbetonte Verselbständigung des Ich, das durch Erkenntnisse aus den Wissenschaften die Unterwerfung der Natur forderte.<br.>Die asiatischen Kulturen hingegen lehrten die Anpassung an die Natur. Sie lehrten die Überwindung des Ich und ein Leben in Konformität mit den Gesetzen der Natur.<br.>Dadurch entstanden unterschiedliche Körperideale und Mentaltitäten... seerth

Hara in der japanischen Lebensart

Die Lehre über hara als physo-psychische Übung wird bereits in die japanische Erziehung als grundlegendes Prinzip integriert. Von klein an werden japanische Kinder zum hara gemahnt und in diesem Kontext erzogen. In demselben Sinn werden spätere Schüler der Kampfkünste dazu angehalten, ihre Kraft aus der Lendengegend über die Hüftbewegung zu entwickeln und nicht über die Schultern. Damit soll im Hintergrund der Übung ein Ausgleich zwischen den schädlichen Wachstumstendenzen des Ich und den natürlichen Anlagen des Lebens erreicht und durch Übung korrigiert werden.<br.>Jede Aktivität entsteht im hara. Hara ist der Sitz der Seele, das Medium aller Beweggründe, Gefühle und Absichten, eine übergeordnete Leitinstanz des japanischern Lebens und die intuitive Erkenntnis aller Wahrnehmungen. Das Prinzip des hara ist keineswegs nur Theorie, sondern wird in der praktischen Übung des geidō zum Zentrum jeder Übung. Hara ist die Grundsubstanz jeder Wegkunst, durch die die Einheit von Geist, Technik und Körper (shingitai) herangebildet werden kann.<br.>Fortschritt in den Wegkünsten definiert sich im Grunde genommen im Erreichen einer höhere Verwirklichungsstufe des hara, weshalb hara das Zentrum jeder körperlichen und geistigen Übung sein muss. Aussagen wie hara wo neru („den Bauch üben“), oder hara gei („die Bauch-Kunst“) sind in Japan so selbstverständlich, dass der Japaner sie überhaupt nicht gesondert erwähnt. Es ist unausgesprochen selbstverständlich, das in allen Wegkünsten, gleich ob Kampfkunst, Zen, Blumenstecken oder Teetrinken, hara das zentrale Übungsprinzip ist.<br.>Das im Ausdruck sichtbare Gleichgewicht eines Menschen (der vollendete hara) wird in den asiatischen Kulturen keineswegs als naturgegebene Veranlagung, sondern als das Ergebnis einer lebenslangen Übung (keikō) in einer Wegkunst (geidō) begriffen.

Hara im Westen

In allen Kulturen der Welt kennt man Unterschiede im körperlichen Erscheinungsbild der Menschen. Der körperliche Ausdruck des Menschen ist in allen Kulturen ein Abbild seiner inneren Beschaffenheit und zeugt von seiner persönlichen Weise, dem Leben zu begegnen.<br.>Fragt man in den westlichen Kulturen nach dem Sitz des Lebens, werden die Menschen mentalitätsbedingt auf den Bereich des Kopfes oder des Herzens deuten. Stellt man diese Frage in den ostasiatischen Kulturen, deuten die Menschen auf den Bauch.<br.>Hara hat im ostasiatischen Raum eine vollkommen andere Bedeutung als im Westen. In Japan bezeichnet hara den individuellen Ausdruck eines Menschen bezüglich seiner inneren Grundbeschaffenheit und deutet stets darauf hin, ob ein Mensch in seiner „Mitte“ (naka) ist oder nicht. Das westliche Menschenbild hingegen zeugt von einer starken Ich-Kultur und zieht den Schwerpunkt in die Brust. So ist der moderne Körperfetischist (z.B. ein Bodybuilder) nicht bloß ein körperbetonter Mensch. Sein Ich manifestiert sich oberhalb seiner „Erdmitte“ im überbetonten Brust-Schulter Bereich, in dem sich sein Selbstgefühl konzentriert. Unterbewusst oder bewusst lehnt er die Einordnung in ein naturgemäßes Leben ab, sein dezentriertes Ich stellt sich darüber und will gelten.<br.>Als Zentrum des intuitiven Wahrnehmens, Handelns und Ausdrucks ist der Bauch jedoch auch in der westlichen Kultur nicht unbekannt. Wir haben in bestimmten Situationen „Bauchschmerzen“ oder „Schmetterlinge im Bauch“ und entscheiden zuweilen „aus dem Bauch heraus“. Vom Ich-Kult befreite Menschen, wie z. B. Priester oder erfahrene Handwerker erlauben ihrer inneren Haltung, sich zu setzen, und versammelt sich auch körperlich viel weiter unten - sie passen sich seiner von der Natur auferlegten Bestimmung an und vereinigen im Gleichgewicht in sich beide Bestimmungspole des menschlichen Lebens - Streben und Achten (mosshōseki).

Übungsformen des Hara

Das Konzept über den energetischen Mittelpunkt des Menschen (in Japan vollkstümlich hara) stammt aus den frühen chinesischen Philosophien des Daoismus. Bereits 5000 v.Chr. stellten die Chinesen die Abhängigkeit des Menschen von den natürlichen Gesetzen des „Lebens und Sterbens“ fest und gründeten körperlich/geistige Übungen (qìgōng), durch die eine bestmögliche Vereinbarkeit des Menschen mit den naturbestimmten Lebensgesetzen zu verwirklichen war. Durch die Anpassung des Menschen an die natürlichen Gesetze sollte eine perfekte Lebensharmonie und gleichzeitig eine höchstmögliche Wirkungsweise erreicht werden.<br.>

Diese ersten psycho-physischen Übungen legten den Grundstein für eine spätere ganzheitliche Übungsmethode für Körper (tai) und Geist (shin), die durch die physische Übung einer Technik (gi) die zentrale Übungsgrundlage aller japanischen Wegkünste ist.<br.>Das Ziel solcher Übungen war immer der ganzgewordene Mensch (shintai), der Übungsansatz dazu war das Prinzip des hara. Auch der Anfänger in den Kampfkünsten muss sich darum bemühen und zumindest die über die Sinnesreize empfangenen Wahrnehmungen auf die richtige Weise zu tragfähigen Erkenntnissen zu kombinieren. Er kämpft unter einem kritischen Lehrer (sensei) stetig gegen sein Selbstgefühl, lernt Situationen richtig einzuschätzen und versteht letztlich, wann er von anderen gebraucht wird, wann er stört, wie er sich in Situationen heraus- und hineinbegeben muss, wie er eine Situation durch Bekenntnis mitverantworten kann, und wie er überhaupt von einem passiven Mitläufer zu einem aktiven Mitgestalter wachsen kann. In diesem Sinn ist das Sprichwort „ob Teetrinken, Blumenstecken oder Sitzen, es ist immer das gleiche“ oder „was richtig geschieht, muss immer mit hara geschehen“, zu verstehen.

Ausdrucksformen des Hara

Das Ziel jeder Übung im budō ist die Dreieinheit (sanmi ittai), zunächst zwischen Körper (tai / karada) und Geist (shin / kokoro), wodurch es möglich wird, den so genannten Geist-Körper 心体 (shintai) zu verwirklichen. Dazu braucht jeder budōka die Anleitung zum richtigen Verständnis seiner Technik 技 (gi / waza). Das daraus resultierende Prinzip bezeichnet man als shingitai (die Einheit von Geist, Technik und Körper). Die Verwirklichung dieser Philosophie in der Praxis geschieht in der kontemplativen Auseinandersetzung mit der Technik in der Übung unter der Anleitung eines sensei. Darin ist die Technik nur Mittel zum Zweck - das Ziel ihrer Übung ist nach wie vor die Einheit von Körper, Geist und Handlung.

Zunächst aber muss auf der Basis der Ganzkörperbewegung (shitai undō) die Technik perfektioniert werden. Alle im budō zu erzielenden Persönlichkeitswerte hängen von der Verwirklichung dieses Prinzips ab. Das verbindende Element zwischen Körper und Geist (shintai) wird in der Philosophie der Körpermitte (hara) gesehen. Hara ist der Sitz der Energie (ki), das Zentrum der Bewegung (undō) und der innerste Kern unseres Selbst. Die gesamte Philosophie des budō kreist um die Lehre von hara und ist eine im Training der Techniken umzusetzende Lehre.

Shisei - Haltung

Shisei ist eine der Ausdrucksformen von hara und bezieht sich als solche auch auf die Haltung des Körpers. Aus der in ihrem Mittelpunkt verankerten Gestalt erwächst der obere Körper auf seiner vertikalen Achse in vollkommenem Gleichgewicht nach oben. Der Nacken ist gerade, die Schultern entspannt, während sich die Schwerkraft nach unten senkt und im Bauch versammelt. Man entwickelt das Gefühl einer schweren Kugel in der Bauchgegend, deren Eigengewicht den Stand verankert und die den Oberkörper trägt. Sowohl im Stand als auch in der Bewegung geht es darum, dieses körperliche Gefüge zu erhalten, um die Kraft der Mitte voll zur Geltung kommen zu lassen. Die Mitte ist das Zentrum der Kraft und das Zentrum des Gleichgewichtes. Durch den Einsatz der Hüfte kommt diese Kraft zur Geltung, indem durch den richtigen Umgang mit dem Schwerezentrum das Gleichgewicht im Stand und in der Bewegung gewahrt wird. Die Haltung hängt also von der Kontrolle des Gleichgewichts und des Schwerezentrums ab.

Kinchō/Kanwa - Spannung und Entspannung

Unter Berücksichtigung der rechten Haltung (shisei) bewegt sich der Körper in der auszuführenden Aktion - immer ausgehend von hara - entweder in einer Hüftdrehung oder in einem Hüftschub. Um darin höchstmögliche Kraft zu entwickeln, bedarf es des rechten Spannungsverhältnisses der Muskeln in der Bewegung. Grundsätzlich wird jede Bewegung in der Entspannung ausgeführt, um eine maximale Endgeschwindigkeit der Technik (und somit kinetische Energie) zu erreichen, die am Ende durch ein kurzzeitiges Anspannen in destruktive Energie umgesetzt wird. Dieses Prinzip enthält:

Kokyū - Atmung

Kokyū bezeichnet die Atmung, auch die durch die Atmung erzeugte vitale Kraft (ki), die in der Technik der Kampfkünste wirksam wird. Sie ist eine der drei Ausdrucksformen von hara in der Übung des karate.

In allen Techniken des karate ist die Atmung von entscheidender Bedeutung. Im unmittelbaren Handlungsvorgang bestimmt sie das „Geben und Nehmen“, das „Spannen und Entspannen“ und den psychologischen Aspekt der Technik. Die Atmung ist nicht nur ein körperlicher Vorgang, sondern kommuniziert mit den psychologischen Strukturen des Menschen: so heißt Einatmen grundsätzlich „Nehmen“ und Ausatmen grundsätzlich „Geben“. Auch ungeübte Menschen verwenden unbewusst dieses Prinzip (z.B. beim Holzhacken - niemand spaltet einen Holzklotz, während er einatmet).

Die Kampfkunstatmung verläuft langsam und ruhig, verstärkt jedoch die Ausatmung in der Ausführung der Technik zum Ende hin, wodurch die Muskelkontraktion (kinchō) unterstützt und die Energieübertragung im kime der Technik erhöht wird. Durch die Atmung wird der Rhythmus (hyōshi) der Aktion geregelt, das Timing der Bewegungen aufeinander abgestimmt und die Einheit zwischen Geist und Körper hergestellt. Die Atmung ist das alles verbindende Element und führt die Bewegungen zu einem harmonischen Ganzen zusammen.

Die Verwendung verschiedener Formen des Atmens in der Technik hängt von der Art der beabsichtigten Energieübertragung im kime ab, allgemeiner ausgedrückt vom Zweck der beabsichtigten Handlung. Doch gleich zu welchen Zwecken man die Atmung übt, kann sie ihre fördernde Wirkung nur bei einer aufrechten und entspannten Haltung des Körpers entfalten.

In den Kampfkünsten stehen deshalb die Prinzipien der Haltung (shisei), der rechten Spannung (kinchō) und der Atmung (kokyū) in beständiger Relation zueinander. Wenn man entspannt und aufrecht ist und das Zwerchfell während der Einatmung nach unten zieht, drückt sich der Bauch ganz natürlich nach vorne. Der Atem strömt in den Bauch, in das Zentrum der Kraft (hara). Wenn wir ausatmen, drückt das Zwerchfell nach oben, und die Luft strömt heraus. Der Atem strömt in den Bauch, in das Zentrum der Kraft (hara).

Shingitai - Die Dreieinheit

Das Ziel jeder Übung im budō ist die Dreieinheit (sanmi ittai), zunächst zwischen Körper (tai / karada) und Geist (shin / kokoro), wodurch es möglich wird, den so genannten Geist-Körper 心体 (shintai) zu verwirklichen. Dazu braucht jeder budōka die Anleitung zum richtigen Verständnis seiner Technik 技 (gi / waza). Das daraus resultierende Prinzip bezeichnet man als shingitai (die Einheit von Geist, Technik und Körper).

Bereits früh erkannte man, dass der Mensch mit dem Geist (shin) entscheidet und mit Technik (gi) handelt, die mit dem Körper (tai) umgesetzt werden. Gleichzeitig aber erkannte man in dieser Dreiteilung (shingitai) auch eine gravierende innere Disharmonie, wenn der Mensch - losgelöst vom übergeordneten Verständnis der Zusammenhänge - ständigen Irrtümern und Illusionen unterliegt.<br.>Hara bezeichnet die Organisation des Menschen auf seiner vertikalen Achse in Bezug auf seine Körperhaltung (shisei), Spannung/Entspannung (kinchō/kanwa) und Atmung (kokyū). Auf dieser Basis entstand das „Prinzip der Mitte“, mit dem man ein psycho-physisches Zentrum im Menschen suggerierte, durch dessen Verständnis man das Vermeiden der menschlichen Fehlhaltungen und Falschentscheidungen üben konnte.<br.>Die Verwirklichung von hara ist in allen japanischen Wegkünsten ein Zeugnis von menschlicher Reife. Jede Wegübung () - also auch budō - zielt dementsprechend vor allem auf die Persönlichkeitsbildung und auf die Entwicklung der inneren Werte des Übenden. Nicht durch einseitig hochgezüchtete Technik, sondern erst dadurch lernt er in der Welt zu wirken.<br.>Sich als Selbst zu gestalten und gleichzeitig die natürlichen Bedingungen des „Werdens und Vergehens“ zu akzeptieren, wird in den Wegkünsten als Grundlage zur Entwicklung jeder Persönlichkeit angesehen. Das Wissen, wie man die Philosophie des hara im Training umsetzen kann, ist nur einem klassischen sensei gegeben. Es ist vor allem gebunden an die folgenden Prinzipien:

Studien Informationen

Siehe auch: Tanden | Kikai | Naka | Shingitai | Dāntián | Zhōng | Qìhăi | Ablage Hara

Literatur

  • Dürckheim: Hara - Die Erdmitte des Menschen,
  • Werner Lind: Lexikon der Kampfkünste. BSK-Studien 2010.
  • Werner Lind: Budo - der geistige Weg der Kampfkünste. Scherz 1991.
  • Werner Lind: Karate Kihon. BSK 2007.
  • Werner Lind: Karate Kata. BSK 2011.