Kinchō/Kanwa

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Artikel von: Werner Lind<br.>Nachbearbeitet von:

Kinchō (jap.: 緊張) bedeutet „Spannung“, „Gespanntheit“, Kanwa (jap.: 緩和) bedeutet „Entspannung“, „Entspanntheit“. In der Wortkombination kinchō/kanwa (jap.: 緊張緩和) bezeichnet der Begriff das richtige Verhältnis zwischen Spannung und Entspannung in allen Daseins- und Wirkungsweisen des Menschen. Neben shisei (Haltung) und kokyū (Atmung) ist kinchō/kanwa das wichtigste Prinzip in der Verwrklichung des hara.

Erläuterungen

Eine Ausdrucksform von hara ist das Verhältnis von geistiger bzw. körperlicher Spannung und Entspannung. Das japanische Wort für „Spannung“ lautet kinchō. Der komplementäre Begriff ist kanwa. Kan verweist auf ein „sich lösen“, wa auf „Harmonie“. In der Verbindung mit kinchō meint kanwa „Entspannung“. In allen Künsten des geidō geht es darum, die Pole Spannung/Entspannung im Übenden so weit wie möglich voneinander zu entfernen, um die Wirkung der Handlung zu erhöhen.<br.>Bevor du lernst stark zu werden, musst du zuerst lernen schwach zu sein“, sagte Meister Funakoshi zu seinen Schülern. Diese Aussage ist schwierig zu verstehen, bezieht sich aber auf das Verhältnis zwischen Spannung und Entspannung.<br.>In den Wegkünsten gilt der Grundsatz, dass menschliches Verhalten von Entspanntheit und Spannkraft geprägt sein muss. Genau wie shisei und kokyū hat auch dieses Prinzip nicht nur eine physische sondern auch eine psychische Dimension. Niemand kann körperlich entspannt sein, wenn er psychisch verspannt ist. Das Eine bedingt und ergänzt das andere und beeinflusst entscheidend die Entwicklung des Übenden. Dazu Karlfried Graf Dürckheim:

Psychischer Aspekt

„Das rechte Verhältnis des Menschen zu sich selbst wird verfehlt, wo im Wechselspiel zwischen innerem Leben und gewordener Form ein Missverhältnis sichtbar wird, sei es als überwiegendes Hervorquellen des von innen hervordrängenden Lebens oder aber in Gestalt einer sich diesem inneren Leben gegenüber allzu sehr wahrenden und versteifenden Form.<br.>Es gibt Menschen, deren Erscheinungsbild immer den Eindruck macht, als fließe oder schwappe das innere Leben gleichsam über, in einem Ausmaß, das jede Form aufzuheben droht. Solche Menschen wirken gefühlig, formlos, ohne innere Ordnung und Richtung. Die Gebärden sind ohne Maß, unrhythmisch, entgrenzt und unkoordiniert.<br.>Im entgegengesetzten Fall fehlt der zügige Fluss der lebendigen Bewegung. Die Ausdrucksgebärden sind gehemmt und stockend, und in der Ruhe wirkt die Gestalt wie in sich selbst verzogen. Man fühlt den Kern nicht, der das Ganze bewegt und beseelt, organisch zusammenhält und lebendig aus ihm hervorstrahlt. Das Ganze ist nur willensmäßig zusammengerafft und immer in Gefahr, plötzlich gesprengt zu werden oder auseinander zu fallen. An die Stelle des Krampfes tritt dann eine Auflösung.<br.>Zusammengefasst: Das innewohnende Leben kann stärker sein als die Schale, oder aber die Schale unterdrückt den lebendigen Kern und wirkt dann wie ein Panzer, in dem er erstickt. In beiden Fällen fehlt die zugleich zentrierende und entfaltende Mitte, in der der Widerspruch zwischen der jeweils gewordenen Form und dem inneren Leben aufgehoben ist. Ist die Mitte vorhanden, dann mutet uns das Erscheinungsbild an als ein unverstellter Ausdruck inneren Lebens, und es wirkt immer harmonisch bewegt. Form und Leben sind dann nicht gegeneinander, sondern füreinander da. Die Form wirkt weder gemacht noch lässig, weder aufgelöst noch starr, sondern in einer Weise, wie sie sich wahrt und dabei doch stetig verwandelt, schlechthin lebendig. Von Augenblick zu Augenblick erfüllt sich das innere Leben in einer ihm gemäßen Form, und umgekehrt erneuert sich in steter Verwandlung die Form aus dem in ihr sich darleibenden Leben. In jedem Augenblick ist die Erscheinung Ausdruck eines schöpferisch neu formenden und das Gewordene immer wieder einlösenden Lebens. Alle Glieder scheinen von einem unstörbaren Zentrum her zugleich harmonisch bewegt und beseelt und geladen mit lebendiger Kraft. Das Ganze: Gelöste Form - geformte Gelöstheit.<br.>So nun, wie das Verfehlen der rechten Mitte immer eine Störung des lebendigen Ganzen bedeutet, so auch bedeutet die rechte Mitte offenbar nichts anderes als eine Verfassung, in der das Ganze sich im Spannungsverhältnis der Pole lebendig bewahrt! Wo die Mitte fehlt, fällt der Mensch von einem Extrem ins andere. Der „Verstiegene" sackt früher oder später zusammen, den in sich Zusammenfallenden reißt es dann und wann übertrieben nach oben. Der Welt gegenüber wechselt der Mensch ohne Mitte zwischen abweisendem Abstand und haltloser Hingabe, und der im Missverhältnis zu sich selbst Stehende pendelt zwischen Selbstauflösung und Krampf.“ (Hara, die Erdmitte des Menschen - K.G. Dürckheim)

Physischer Aspekt

Unter Berücksichtigung der rechten Haltung (shisei) und der rechten Atmung (kokyū), bewegt sich der Körper in der Ausführung der Techniken immer ausgehend von hara - entweder in einer Hüftdrehung oder in einem Hüftschub. Um darin höchstmögliche Kraft zu entwickeln, bedarf es des rechten Spannungsverhältnisses der Muskeln in der Bewegung. Grundsätzlich wird jede Bewegung in der Entspannung ausgeführt, um eine maximale Endgeschwindigkeit der Technik (und somit kinetische Energie) zu erreichen, die am Ende durch ein kurzzeitiges Anspannen in destruktive Energie umgesetzt wird. Dieses Prinzip enthält:

  • Beschleunigung 速度 (sokudō) - Die Techniken des karate erhalten ihre Wirkung weit weniger durch den Einsatz der Muskelkraft als durch eine hohe Endgeschwindigkeit. Um hohe Beschleunigungen zu erreichen, ist es notwendig, die Muskeln während der Bewegung soweit als möglich zu entspannen. Erreicht man eine hohe Beschleunigung, hat das Auftreffen der Technik im Ziel eine explosive Wirkung. Um dies zu gewährleisten, darf während der Bewegung nur soviel Kraft verwendet werden, wie notwendig ist, um ein Maximum an Beschleunigung zu erzielen. Unnötige Spannungen der Muskeln verhindern die Beschleunigung.
  • Kraftkonzentration 決め (kime) - Um ein Höchstmaß an Kraft zu erreichen, müssen alle Teile des Körpers zur gleichen Zeit ihre Kraft entfalten. Dies geschieht immer ausgehend von der langsamen, aber starken Körpermitte (hara) hin zu den schnellen, jedoch schwächeren Extremitäten ( ). Rumpf und Extremitäten müssen sich dabei in vollkommener Harmonie bewegen. Wenn es gelingt, solche harmonische Ganzkörperbewegungen zu erzielen, durch die sich die Kräfte der Körperteile summieren und die Bewegungsgeschwindigkeit auf ein Höchstmaß gebracht wird, kann im entscheidenden Moment beim Aufprall der Technik eine große Gesamtkraft (kime) entstehen. Um diese Kraft jedoch ins Ziel übertragen zu können, muss der ganze Körper für einen Moment stark angespannt werden. Bei Berücksichtigung der richtigen Körperhaltung (shisei) kann durch die Spannung der verbindenden Muskeln zwischen Arm und Unterleib die „Kraft der Mitte“ (hara) mithilfe der Technik ins Ziel gelenkt werden. Es ist jedoch notwendig, die Spannung nach dem Aufprall sofort zu lösen, um sich nicht durch die nach dem Rückstoß-Gesetz erzeugte Gegenkraft selbst zu schädigen.

Studien Informationen

Siehe auch: Hara | Shingitai | Waza | Shisei | Kokyū |

Literatur

  • Werner Lind: Lexikon der Kampfkünste. BSK-Studien 2010.
  • Werner Lind: Budo, der geistige Weg der Kampfkünste, O.W.Barth Verlag 1992.
  • Karlfried Graf Dürckheim: Hara, die Erdmitte des Menschen, O.W. Barth Verlag


Weblinks