Pinan

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Artikel erstellt von: Hendrik Felber | Werner Lind

Der Begriff pinan (平安) bezeichnet eine von Itosu Ankō gegründete Gruppe von fünf Bewegungsformen (kata) des okinawanischen und japanischen karate. Man übt sie heute in verschiedenen Ausprägungen in den meisten Stilen des okinawanischen shōrin ryū sowie in japanischen Stilen, deren Formen im shōrin ryū wurzeln. Dazu zählen u.a. wadō ryū, shitō ryū, kyokushinkai ryū und das shōtōkan ryū, wobei im zuletzt genannten Stil die Kanji des Kata-Namens heian intoniert werden .

Der Name pinan

Die Bedeutung des Kata-Namens pinan wird im Deutschen häufig mit „Frieden und Ruhe“ angegeben, was bei einem ersten Blick auf die entsprechenden Schriftzeichen plausibel ist: (pin) hat ein Spektrum von „ausgewogen, unparteiisch; eben, flach; friedlich; gewöhnlich, normal“, während (an) „friedlich“ oder „ruhig“ bedeuten kann. Das zuletzt genannte Zeichen erscheint übrigens auch im Vornamen des Gründers: Ankō 安恒. Ob sich Itosu bei der Namengebung damit quasi selbst verewigen wollte, bleibt jedoch spekulativ. Die Kombination beider Zeichen eröffnet weitere Deutungsräume: das chinesische Kompositum 平安 wird píng ān gelesen und u.a. mit solchen Doubletten wie „gesund und munter“, „heil und gesund“ oder „sicher und störungsfrei“ wiedergeben. Im Japanischen bezeichnet die heian gelesene Zusammensetzung 平安 zudem eine geschichtliche Epoche, die sogenannte „Heian-Zeit“ (heian jidai, ca. 794-1185), deren Bezeichnung sich vom Namen der damaligen japanischen Hauptstadt Heian-kyō ableitet. Die verschiedenen Lesarten haben ausgehend von historischen Implikationen zu verschiedenen Deutungen des Namens geführt:

Geschichte der pinan: Fakten, Indizien, Mutmaßungen

Im Gegensatz zu vielen anderen kata des okinawanischen karate kann die Gründung der Pinan-Serie recht konkret historisch bestimmt werden. Ihr Urheber ist der okinawanische Karate-Meister Itosu Ankō (1831-1915), der mit der von ihm angestrebten und letztlich auch erreichten Einführung des karate an okinawanischen Schulen und in der Lehrer-Ausbildung nach 1901 den ersten und wichtigsten Schritt zur Popularisierung der vormals im Verborgenen praktizierten Kampfkunst machte. Itosus Hauptargument bei den Behörden in diesem Verfahren (nachzulesen in seinem berühmten Brief an das japanische Kriegs- und Erziehungsministerium von 1908) war, dass die Übung des karate die Jugend hervorragend auf zukünftige militärische Einsätze vorbereite, indem es zur Körperausbildung und Gesunderhaltung beitrage sowie solche Tugenden wie Tapferkeit und geistige Stärke ausbilde. Daher erscheint eine Übersetzung von pinan mit "gesund und munter" zumindest für den Ursprung der Formen-Serie plausibler als die mit „Frieden und Ruhe“, zumal sich Itosu trotz seiner japanophilen Attitüde offenbar für die an das chinesische píng ān klar anlautende Intonation pinan entschieden hat. Erst mit Itosus Schüler Funakoshi Gichin kam es zu einer Akzentverlagerung, als dieser sich im Zusammenhang mit mehreren anderen Umbenennungen von kata für die japanische Lautung heian und den damit verbundenen Implikationen an die geschichtsträchtige japanische Epoche entschied. Funakoshi erläutert in seinem Hauptwerk Karatedō kyōhan von 1935 den Bedeutungsgehalt des Kata-Namens so, dass diese Serie sehr für die „üblichen Formen der Selbstverteidigung“ (heijō no goshin, 常の護身) nütze und dementsprechend zu Selbstvertrauen bzw. einem in sich ruhenden Geist (anshin 心) beitrage. Die jeweils ersten Zeichen dieser Formulierungen ergeben den Namen heian. In manchen Stilen, deren Gründer bei Funakoshi lernten, wurde später wieder die ursprüngliche Lautung pinan gebraucht. Dies betrifft u.a. das wadō ryū und das kyokushinkai ryū.

Da es von Itosu keine überlieferten Äußerungen zur Quelle gibt, aus der er das technische Repertoire seiner fünf Formen schöpfte, bleibt der Karate-Forschung gegenwärtig nur Weg der vergleichenen Analyse mit anderen, älteren kata, die Itosu übte und unterrichtete. So sind unter anderem sequenzielle Übereinstimmungen zwischen den Pinan-Formen und der kūshankū, der passai, der chintō, der naihanchi und der jion zu bemerken.

Im Zusammenhang mit der Entstehung der pinan wird in der Literatur immer wieder der Name einer weiteren Form genannt: channan. Da sie heute nicht bzw. nicht mehr praktiziert wird und über ihre technischen Inhalte kaum etwas bekannt ist, müssen gegenwärtig Äußerungen verschiedener Meister der ersten und zweiten Generation von Itosu-Schülern, zu denen unter anderem Motobu Chōki und Kinjō Hiroshi zählen, als Nachweis für ihre einstige Existenz genügen. Aufgrund der äußerst dürftigen Faktenlage hinsichtlich der channan einerseits und der weltweiten Verbreitung der pinan / heian und des entsprechenden öffentlichen Interesses andererseits ist es nur folgerichtig, dass die Diskussion über die Form channan heute nur noch als ausufernd und höchst spekulativ eingeschätzt werden kann. In dieser Diskussion gibt es unter anderem folgende, teilweise einander widersprechende Thesen:

- Itosu gründete die channan auf Basis der kūshankūund benannte erstere später in pinan um.
- Itosu gründete die pinan auf Basis der auch channan genannten Form kūshankū.
- Itosu gründete die pinan auf Basis einer chinesischen Form namens channan (bzw. chiang nan).
- Itosu lernte in Tomari die Form von einem (schiffbrüchigen) Chinesen und gab ihr dessen Namen: channan.

Allgemeines zu Enbusen und Bewegungsstruktur der pinan

Das Schrittdiagramm (enbusen) der Pinan-Formen entspricht einem T bzw. Doppel-T in verschiedenen Variationen und eignet sich aufgrund dieser überschaubaren und leicht nachzuvollziehenden Struktur für die Ausbildung von Anfängern. Der Grad der Komplexität der Bewegungen steigt in der Form-Serie von der ersten kata pinan shodan zur fünften pinan godan an. Um diese Sukzession noch mehr zu betonen, vertauschte Funakoshi die Reihenfolge der ersten beiden kata. Die ursprünglich erste Form pinan shodan wurde seine zweite: heian nidan, die ursprünglich zweite Form pinan nidan seine erste heian shodan. Obwohl der Beweggrund heute auch in vielen okinawanischen Stilen akzeptiert ist, wird doch in den meisten Fällen an Itosus Zählweise festgehalten. Die pinan kata beginnen alle mit einer 90 Grad nach links orientierten Auftaktsequenz, deren Techniken nach einer 180-Grad-Wendung seitenverkehrt wiederholt werden, was auch im Kata-Namen durch 平 „ausgewogen“) eine Entsprechung findet. Auch darüber hinaus sind die diese Formen von vielen Wiederholungen geprägt, sei es in der beschriebenen Art auf den Schmalseiten des enbusen oder als Dreifach-Wiederholungen auf dessen Längsbahnen, was ihren didaktischen Wert für den Anfängerunterricht unterstreicht.

Studien Informationen

Siehe auch: Kata | Karate-Kata | Kata-Liste (Karate) | Pinan shodan | Pinan nidan | Pinan sandan | Pinan yondan | Pinan godan | Heian | Itosu Ankō

Literatur

  • Arnold, Ursel - Die Heian Kata. Ein Studienbuch für Anfänger und Fortgeschrittene - Bensheim 2004
  • Funakoshi, Gichin - Ryūkyū kenpō karate, 1922 (Reprint)
  • Funakoshi, Gichin - Rentan goshin karate jutsu, 1925, engl. Tokyo 2001
  • Funakoshi, Gichin - Karatedō kyōhan, 1935, engl. San Diego 2005
  • Lind, Werner - Die klassische Kata. Geistige Herkunft und Praxis des traditionellen Karate. Bern, München, Wien 1995
  • Nagamine, Shoshin - The Essence of Okinawan Karate-Do u.a. Boston 1976
  • Sakagami, Ryushō - Karatedō kata taikan, 1978
  • Takamiyagi Shigeru, Shinzato Katsuhiko, Nakamoto Masahiro [Autoren und Herausgeber] - Okinawa Karate kobudō jiten [Lexikon des okinawanischen karate und kobudō]. Tōkyō 2008.

Videos und DVD

Videos und DVD vom BSK
Kata Bunkai 1 - Heian / Pinan shodan (W. Lind), 1999
Kata Bunkai 2 - Heian / Pinan nidan (W. Lind), 1999
Kata Bunkai 3 - Heian / Pinan sandan (W. Lind), 1999
Kata Bunkai 4 - Heian / Pinan yondan (W. Lind), 1999
Kata Bunkai 5 - Heian / Pinan godan (W. Lind), 2000

Weblinks