Ueshiba Morihei

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Ueshiba Morihei

Ueshiba Morihei (植芝 盛平) war der Begründer des aikidō. Er wurde am 14. Dezember 1883 in Nishinotani, Nishimuro-gun, dem heutigen Tanabe, in der Präfektur Wakayama geboren und starb am 26. April 1969 in Iwama.

Geschichte des Aikijūjutsu

Der Clan der Minamoto

Gegen Ende des 9. Jahrhunderts hatte sich die Familie des japanischen Kaisers (tennō - 天皇) so sehr vergrößert, dass der Hof nicht mehr in der Lage war, alle entfernten Verwandten angemessen zu versorgen. Daher beschloss man im Jahre 814, alle kaiserlichen Verwandten, die nicht dem engeren Familienkreis angehörten oder für Regierungsaufgaben benötigt wurden, außerhalb der Hauptstadt anzusiedeln, wo sie als Feudalherren über ansehnliche Ländereien ein neues Leben begannen. Im Laufe der Jahrhunderte entstanden aus den einzelnen Familien mächtige Clans, die je nach ihrem Gründer, dem Gebiet, in dem sie wohnten oder der Kaiserfamilie, der sie ursprünglich angehörten, verschiedene Namen trugen. Einer der größten Clans jener Zeit bildete die Familie der Minamoto (oder Genji), benannt nach ihrem Ahnherrn Minamoto Tsunemoto, dem Sohn eines kaiserlichen Prinzen. Die Minamoto siedelten sich zunächst in Ländereien um die Hauptstadt Kyōto an, die sie als Gouverneure verwalteten und unterhielten - ebenso wie alle anderen Fürsten - eine eigenständige Armee. Über die Jahre hinweg entwickelten sie sich zu einem der berühmtesten Kriegerclans in der japanischen Geschichte, der aufgrund seiner kämpferischen Stärke immer wieder von verschiedenen Regenten um Hilfe gebeten, um Rebellenhochburgen und anderer Krisenherde im Land zu vernichten. Jeder errungene Sieg ließ die Minamoto im Ansehen des Kaisers ansteigen und vergrößerte die Macht des Clans, und bald gehörte er zu den mächtigsten Familien des Landes.

Heutige Geschichtsforscher schreiben dem Minamoto-Clan die Entwicklung des ursprünglichen aikijutsu (合気術) zu, das die Grundlage der Heeresausbildung jener Zeit war. Diese sagenumwobene Kampfkunst bestand in den ersten zwei Jahrhunderten nach ihrer Gründung hauptsächlich aus verschiedenen Methoden des Schlagens, mit deren Hilfe man Öffnungen und Anschlussstücke von Rüstungen angriff. Das Zentrum des Systems war die Ausbildung an der Waffe, darüber hinaus war es für jeden Offizier Pflicht, sich in den Taktiken der Kriegsführung auszubilden. Die Techniken dieser Kampfkunst waren in jener Zeit noch vollkommen zweckdienlich und einzig für die Anwendung auf dem Schlachtfeld entwickelt worden. Mit General Minamoto Yoshimitsu (1056 - 1127) verfeinerten sich die unbewaffneten Techniken für die Nahdistanz aus dem System und näherten sich an das an, was wir heute als aikijutsu bezeichneten. Yoshimitsu hatte sich zusammen mit seinem Bruder Minamoto Yoshii lange mit dem Knochenbau und der Funktion des menschlichen Körpers beschäftigt und anhand seiner Studien das alte Kampfkonzept weiterentwickelt. Angeblich soll er sogar Leichen seziert haben, um die genaue Lage der Knochen und Sehnen im menschlichen Körper kennenzulernen. Viele der bis dahin verwendeten Schläge wurden von ihm durch Arm- und Gelenkhebel ersetzt und in den Nahkampf übertragen. Auch führte er ein neues Verteidigungssystem ein, das Abwehrtechniken gegen alle Arten von Waffen schulte.

Mitte des 12. Jahrhunderts trat der in Kyōto ansässige Clan der Taira auf die Bildfläche, der mit den Minamoto seit längerem um die Vormachtstellung am kaiserlichen Hof rang. Nach verschiedenen kleineren Interessenskonflikten kam es 1156 schließlich zum Hogen-Krieg, in dem die Taira den Minamoto-Clan vernichtend schlugen und die meisten führende Mitglieder der Familie hinrichteten. Einzig die beiden jüngsten Söhne des damaligen Minamoto-Fürsten, Yoritomo und Yoshitsune wurden auf der Halbinsel Izu ins Exil verbannt. Von diesem Zeitpunkt an waren die Taira auf dem Höhepunkt ihrer Macht und standen am Beginn ihrer 20jährigen Regierungszeit. Tyrannei und Machthunger der Taira zog jedoch bald den Unwillen des Hofes und verschiedener daimyō (大名) auf sie und führte zu Unruhen und Revolten. Nachdem die Taira 1180 mehrere Aufstände niedergeschlagen hatten und ihre Armeen vom Krieg geschwächt waren, sahen Yoritomo und Yoshitsune die Zeit für gekommen, ihre heimlich im Exil aufgebaute Armee gegen die Taira in den Kampf (Gempei-Krieg) zu schicken. Nach fünf Jahren unerbittlicher Kämpfen gelang es den Minamoto schließlich am 25. April 1185, den endgültigen Sieg über ihre verhassten Feinde zu erringen und den Beginn der Blütezeit ihrer Macht einzuleiten.

Der Clan der Kai Genji Takeda

Die hauptsächliche Überlieferungslinie des aikijutsu sollte jedoch nicht beim Minamoto-Clan bleiben, sondern sich auf den Takeda-Clan übertragen, der eine der vielen Seitenlinien der Minamoto darstellte. Schon zur Zeit der Taira hatte Minamoto Yoshikiyo, der zweite Sohn von Minamoto Yoshimitsu, seinen Wohnsitz in die Provinz Kai verlegt, um dort mit seinen Familienangehörigen und Vasallen einen neuen Clan zu gründen. Zur Unterscheidung und Betonung ihrer Unabhängigkeit vom Minamoto-Clan nannten sie sich fort an Kai Genji Takeda (Kai war der Name der Provinz, Genji die ursprüngliche Bezeichnung ihrer Minamoto-Vorfahren und Takeda der neue Name des Clans). Unter der Führung von Minamoto Yoshikiyo, der ein Erbe und Meister der geheimen Minamoto-Kampfkunst war, entwickelten die Takeda aus dem Aikijutsu bald ihre einzigartige Kampfkunst, der sie den Namen Takeda-ryū gaben. Dieses System beinhaltete waffenlose Techniken für den Nahkampf, Bogenschießen, Reiten, Speer- und Schwertkampf und erweiterte die bisherigen Kampfmethoden für das Schlachtfeld mit sogenannten Gunpo-Techniken (Gelände-Strategien).

Doch erst im 16. Jahrhundert sollten die Kampfkünste der Takeda unter der Regierung von Takeda Nobutoru ihre Blütezeit erfahren. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte es innerhalb jeder Generation des Clans fortwährend Machtkämpfe gegen rivalisierende Familien oder Auseinandersetzungen mit dem regierenden shōgun (将軍) gegeben, so dass erst 1515 die Macht der Takeda soweit gefestigt war, dass Nobutoru in Kai eine zentralistische Regierung errichten konnte. Wenig später enthob ihn jedoch sein Sohn Harunobu gewaltsam von der Macht und setzte sich selbst an die Spitze des Clans. Takeda Harunobu (1521-157), besser bekannt unter dem Namen Takeda Shingen, sollte sich später zu einem der brillantesten Heerführer in der japanischen Geschichte entwickeln. In den Jahren nach seiner Thronbesteigung führte Shingen viele siegreiche und berühmte Schlachten und wurde so allmählich zum mächtigsten und gefürchtetsten Takeda-Fürst, der je gelebt hatte. Die samurai (侍) seines Clans waren unter seiner Führung und der seiner Gefolgsleute (Sanada Yukitaka, Obata Toramori und Yamamoto Kansuke) zu einer unüberwindlichen Elite-Einheit geworden, die zu Lebzeiten Takeda Shingens nie besiegt werden sollte.

Im Jahr 1572 maß Takeda Shingen zum wiederholten und letzten mal seine Kräfte mit dem zukünftigen shōgun Tokugawa Ieyasu und besiegte ihn schließlich. Doch der Krieg gegen den Tokugawa-Clan hatte die Kräfte der Takeda stark dezimiert. Takeda Shingen erkannte das sich anbahnende Problem, und bevor er schließlich im April 1573 aufgrund einer schweren Kriegsverletzung aus dem Kampf gegen Tokugawa starb, übertrug er seinem Sohn Takeda Katsuyori die Leitung des Clans und schickte seinen anderen Sohn Takeda Kunitsugu (1551 - 1592) nach Aizu, um Ashina Moriuji, den Fürst der Aizu-Takeda, um Unterstützung zu bitten. Der Clan der Aizu, selbst ein Zweig der Takeda-Familie und zugleich Verbündeter Takeda Shingens, wagte zu diesem Zeitpunkt jedoch keine militärische Auseinandersetzung mit Togugawa, bot aber Kunitsugu ein Shôen an und beauftragte ihn, den Aizu Takeda als Kampfkunstlehrer zu dienen. Trotz Shingens Tod galten die berittenen Truppen der Takeda aus Kai immer noch als die Elite-Kampfeinheiten ihrer Epoche und wurden von vielen Generälen als unbesiegbar eingeschätzt. Ungeachtet dieser Tatsache gestaltete sich das Leben in der Provinz Kai jedoch immer schwieriger. Takeda Katsuyori, der Nachfolger Takeda Shingens, hatte seinen Clan durch verschiedene politische Fehlentscheidungen in verhängnisvolle Notlagen gebracht und großen Unmut auf sich gezogen. Sich dieser momentanen Schwäche der Takeda bewusst, veranlasste Tokugawa Ieyasu und den amtierenden shōgun Oda Nobunaga die Takeda gemeinsam anzugreifen. Am 21. Mai 1557 standen daraufhin die 15.000 Mann starke Samurai-Einheit der Kai Takeda in der Schlacht von Nagashino no kassen den vereinigten Streitkräften von Tokugawa und Nobunaga gegenüber. Diese waren im Gegensatz zu den Samurai der Takeda mit Musketen bewaffnet, und so oft Katsuyoris Krieger auch angriffen, sie wurden immer wieder durch einen Geschosshagel niedergestreckt. An diesem schicksalhaften Tag fanden 12.000 Samurai der Kai Takeda den Tod und Takeda Katsuyori musste mit den Überlebenden den Rückzug nach Kai antreten. Doch die vereinten Streitkräfte wollten mit dem Mythos des unbesiegbaren Kriegsfürsten endgültig aufräumen und griffen die Takeda im Februar 1582 in ihrer Hochburg in Kai erneut an. Nach einem vergeblichen Kampf gegen die Übermacht, nahm sich Katsuyori, der letzte Fürst der Kai Takeda, durch seppuku (切腹) das Leben. Seines Fürstentums beraubt und in völliger Auswegslosigkeit nahm der letzte Takeda, Takeda Kunitsugu das Angebot seiner Verwandten aus Aizu an und begann die Elite der Aizu-Samurai im Takeda-ryū zu unterrichten. Nun war er der letzte noch lebende Erbe dieser berühmten Kriegskunst und das einzige Bindeglied ihrer Überlieferung aus der Vergangenheit in die Gegenwart.

Der Clan aus Aizu

Aizu ist die Bezeichnung eines Gebietes im nordöstlichen Teil der japanischen Hauptinsel Honshū, das zur Heimat einer Zweigfamilie (Aizu Takeda) der Kai Takeda wurde, die sich ebenso wie ihre Verwandten auf die edle Abstammung von den Minamoto-Samurai berufen. Nachdem die Kai Takeda ihr Land verloren und Takeda Kunitsugu in Aizu um Asyl gebeten hatten, ließen die Aizu-Fürsten zunächst ihre gehobenen samurai von ihm unterrichten. Der positive Einfluss des Takeda-Lehrers auf das bestehende und ebenfalls hoch angesiedelte Kriegertum der Aizu blieb jedoch von den Aizu-Fürsten nicht unbemerkt und man begann Maßnahmen zu ergreifen, durch die die Takeda-Kampfkunst in die Ausbildung der Aizu-Samurai integriert werden konnte. In den damaligen unruhigen Zeiten war es dringend notwendig, bereits die Samurai-Kinder sowohl im Waffenumgang als auch geistig auszubilden, und sie im Sinne des bushidō (武士道 - „Weg des Kriegers“) zu erziehen. Erst der Kodex des Kriegers ermöglichte ihnen den wahren Weg des samurai und den Fürsten eine verlässliche Armee.

Kunitsugu hinterließ nach seinem Tod in Aizu mehrere hochrangige Vertreter des Takeda-ryū, das dort unter verschiedensten Bezeichnungen (ajutodome, aikibujutsu, daito ryū aikijutsu, oshikiuchi-ryū oder auch goshikiuchi-ryū, otome-ryū, yamate-ryū u.a.) existierte. Seine Nachfolger gründeten um 1664 unter der Schirmherrschaft des daimyō (Fürst - 大名) von Aizu ein zentrale Ausbildungsschulen (Nishinkan) in denen jungen Aizu-Samurai entsprechenden Unterricht erhielten. Jedoch durften nur samurai mit einem Einkommen von über 500 koku, die Hofdamen und die direkten Diener des daimyō von Aizu diese Schule besuchen. In der Folgezeit erblühten die Kampfkünste in der Provinz Aizu wie nirgendwo sonst. Am Nishinkan wurden fünf Stile des kenjutsu (剣術 - Schwertkampf) und zwei Stile des jūjutsu (Mizuno Shintō ryū und Shinmyō-ryū), gelehrt, und zusätzlich entstanden viele private Trainingsstätten, darunter zwei für kenjutsu (Schwertkampf - 剣術), vierzehn für Battojutsu (Bajonettkampf), sechzehn für jūjutsu (waffenloser Kampf) sieben für kyūjutsu (Bogenschießen), sechzehn für arkebuse (Musketenschießen) und vier für sōjutsu (Speerkampf). Gleichzeitig konnten die angehenden Schüler den Umgang mit der naginata (Hellebarde - 長刀) kusarigama (Sichelkette), bōjutsu (Stockkampf), kumiuchi (Ringkampf) und jinchyu ninjutsu (Spionagetechniken) erlernen. Insgesamt gediehten in der Provinz Aizu vierundneunzig Schulen der Kampfkünste, die die hochentwickelten Systeme der Takeda annahmen und weiter ausbauten. Bestimmte Kampfkünste waren jedoch nach wie vor nur samurai von allerhöchstem Stand zugänglich und wurden als otome-ryū oder oshikiuchi-ryū (Geheimlehren) bezeichnet. Es war nicht gestattet, dass das Wissen um diese Systeme an Gefolgsleute von geringem Stand weitergegeben wurde, und auch ein technischer Austausch mit anderen Stilen war verboten. Zwei dieser Kampfkünste, die unter diese Regelung fielen, waren das aikijūjutsu und Aizu Mizoguchi ha Itto ryū.

Die von den Takeda iniziierten Kampfsysteme der Aizu-Samurai wurden so über Generationen weitergegeben und haben sich ständig verfeinert und vervollkommnet. Nachdem sie seit Takeda Kunitsugu über zehn Generationen überlebt hatten, gingen sie schließlich gegen Ende der Tokugawa-Periode in eine immer kleiner werdende Gruppe von Kampfkunstexperten über. In der turbulenten Zeit der Umänderung der japanischen Kriegerära in die neue Gesellschaftsform der Meiji-Periode versuchten diese Lehrer ihre Kampfkunst vor den politischen Stürmen des ausländeroffenen Japans schützen, das viele von Japans ältesten und meistgeachteten Kampfkunsttraditionen zerstören sollte.

Aufbruch in die Meiji-Zeit

Nach über zwei Jahrhunderten der diktatorischen Herrschaft des Tokugawa-Shōgunats glitt Japan zu Ende des 19. Jahrhunderts langsam in den letzten Abschnitt seiner tausendjährigen Militär-Herrschaft und erfuhr die gravierendsten Gesellschaftsveränderungen seiner Geschichte durch die Meiji-Restauration. Zunehmende Einflüsse des Westens bewirkten eine tiefen Kluft zwischen der alten Samurai-Tradition und der sich anbahnenden japanischen Moderne, dem weder der allmächtige shōgun noch der Kaiser gewachsen waren. In Folge dieser Spannungen entbrannte ein verheerender Bürgerkrieg zwischen den Anhängern des shōguns und jenen, die den Kaiser wieder an die Macht bringen wollten. Zwar hatte der shōgun Tokugawa Yoshinobu zugunsten des jugendlichen Meiji-Tennō abgedankt, doch die Tokugawa treuen Fürsten (allen voran der Aizu-Daimyō) befanden sich immer noch am Kaiserhof von Kyōto und diktierten sämtliche Regierungsentscheidungen. Um dies zu unterbinden besetzten die kaiserverbundenen Truppen der Clans von Satsuma, Tosa, Echizen, Aki und Owari am 3. Januar 1868 die Hauptstadt Kyōto, entließen den gesamten Hofstaat und und erklärten das Shōgunat für abgeschafft. Obwohl dem entmachteten shōgun Yoshinobu als Ausgleich hohe Regierungsämter angeboten wurden verließ er dennoch Kyōto und zog nach Ōsaka, wo er sich auf Anraten des daimyō von Aizu für einen neuen Krieg gegen den Kaiser rüstete. Am 27. Januar 1868 griffen seine Truppen zusammen mit den samurai von Aizu und Kuwana die kaiserlichen Armeen an. Bei Fushimi wurde sie aber von den kwangun (Verbündete des Kaisers) gestellt und in einem dreitägigen Kampf besiegt. Ihre samurai flohen in wilder Unordnung, wurden verfolgt und zahlreiche Krieger getötet. Zunächst konnte sich der shōgun nach Edo (Tōkyō) retten, wo er erneut von dem daimyō der Aizu und den Sendai bedrängt wurde, den Kampf fortzusetzen. Doch schließlich gab er den Kampf auf, erklärte seine Unterwerfung und zog sich endgültig ins Privatleben zurück. Indessen drang die erfolgreiche Kaiserarmee unter Saigo Takamori nach Edo vor, wo sie immer noch auf erbitterten Widerstand verschiedener shōgunatstreuer Gruppierungen vor allem aber auf den ungebrochenen Widerstand der Krieger aus Aizu stieß. Diese verteidigten gemeinsam mit den komusō bis zum letzten Mann den Tempel von Edo (Uyeno), der bei den Kämpfen letztenendes in Flammen aufging. Gleichzeitig fanden im Hochland von Aizu und Wakamatsu, sowie in Matsumaye und Hakodate auf Ezo weitere Kämpfe statt, doch bereits am 1. Juli 1869 waren alle Anhänger des Shōgunats endgültig besiegt.

Saigo Tanomo

Die Niederlage des Aizu-Clans gegen die Kaisertreuen traf all seine Mitglieder hart, unter ihnen auch Saigo Tanomo (1829 - 1905) den damaligen Vertreter der Takeda-Kampfkunst. Saigo Tanomo auch Hoshina Chikamasa, Hoshina Genshin oder Chikanori Genzo genannt, war der Sohn des berühmten Aizu-Samurai Saigo Chakamoto, Herr des Schlosses Aizu-Shirakawa, Vorstand der Shintō-Tempel Nikko Toshogu und Futarasan, Großmeister des daito ryū aikibujutsu (damals Oshikiuchi ryū) und Lehrer von Saigo Shiro und Takeda Sogaku, dem späteren Überlieferer des aikijutsu. Als die Clans von Choshu, Mōri und Satsuma sich auf die Seite des Kaisers geschlagen hatten, entbrannte zwischen ihnen und den shōguntreuen Aizu-Samurai ein fürchterlicher Kampf. Auch Saigo Tanomo kämpfte mit seinen Kriegern für den Shogun in Fushimi und später auch in Edo. In der Schlacht von Shiragawaguchi (Frühjahr 1868) führte Saigo Tanomo die Aizu-Krieger gegen die Satsuma und Choshu, unterlag jedoch in einem blutigen Kampf, in dem die meisten Aizu-Samurai starben. Saigos Angehörige glaubten, dass auch er gefallen sei und begingen mit 21 Frauen und Kindern seppuku. Die vereinigten Truppen von Mori, Choshu und Satsuma, die daraufhin in das Heimatland der Aizu einfielen, wurden jedoch von einer mit Naginata bewaffneten Schar von Samurai-Frauen, unter der Führung von Nakamura Takeko erbittert bekämpft. Auch eine Gruppe von 40 Jungen im Alter zwischen 15 und 17 Jahren (byakko tai) wehrte sich gegen diese Invasion, doch als sie ihren Anführer verloren, bezogen sie mit ihren verbliebenen 20 Mitglieder Stellung auf dem Berg Iimori und begingen kollektiven Selbstmord.

Saigo Tanomo überlebte die Kriegswirren und kehrte schließlich nach Aizu zurück, wo er seine Kampfkunst fast 20 Jahre lang unterrichtete. Ununterbrochen zog er von dōjō zu dōjō, nahm Herausforderungen an und wurde niemals besiegt. Ursprünglich war Saigo ein Schüler von Takeda Soemon (Takeda Sōgakus Großvater) gewesen, später erreichte er dann zusätzlich die Meisterschaft in den Schwertstilen Mizoguchi ha Itto ryū und Koshi ryū Gungaku. Er hatte einen Stiefsohn (oder unehelichen Sohn) namens Saigo Shiro, den er lange Zeit hauptsächlich deshalb unterrichtete, weil dieser sein Nachfolger werden sollte. Doch Saigo Shiro wandte sich dem Kōdōkan unter Kanō Jigorō zu und wurde dort einer der wichtigsten Lehrer. Daraufhin bestimmte Saigo Tanomo den jungen Takeda Sogaku zu seinem Nachfolger im daitō ryū aikibujutsu. 1880 weihte er Takeda Sogaku in die letzten Geheimnisse des daitō ryū aikibujutsu ein und dieser sorgte für die Weitergabe dieser lang geheimgehaltenen Kampfkunst an die heutige Generation.

Takeda Sōgaku

Takeda Sōgaku

Die Meiji Restauration (1868) leitete die große Reformperiode Japans ein. In nur 45 Jahren wurden westliche Wissenschaft, Technik und Industrie sowie Wehrmachts-, Verwaltungs-, Rechts- und Bildungswesen, Sitten und Lebensformen zunächst blind übernommen und dann angepasst. Die Restauration begann 1868 mit dem Fall des letzten shōgun, als die kaiserliche Residenz von Kyōto nach Edo verlegt wurde, das ab sofort Tōkyō heißen sollte. Zunächst blieb die Macht der Sippen (uji - 氏) unangetastet, doch die Lehen wurden beschnitten und die Geldwirtschaft eingeführt. 1876 wurde die Not der entmachteten samurai so groß, dass sie zu den Waffen griffen um die neue Regierung zu stürzen. Zuerst erhoben sich die Saga unter dem früheren Justizminister Etō Shimpi (1835 - 1874), doch der Aufstand wurde niedergeschlagen und die Anführer enthauptet. 1876 versuchte der „Bund der Götterwinde“ in Kumamoto einen Putsch und zugleich gab es auch in Hagi Unruhen. 1877 erhoben sich die Satsuma unter dem ehemaligen Kriegsminister Saigo Takamori gegen die Meiji-Regierung und der Seinin-Krieg brach aus. In diesem Krieg standen sich die Aizu- und Satsuma-Samurai erneut gegenüber. Diesmal auf der Seite des Kaisers, nahmen die Aizu in der Schlacht von Tabaruzaka fürchterliche Rache für die Niederlage bei Sekigawaguchi.

In dieser turbulenten Zeit verbrachte Takeda Sōgaku Minamoto Masayoshi, der spätere Großmeister des daitō ryū aikibujutsu die besten Jahre seines Lebens. Er wurde am 10. Oktober 1860 in der Provinz Aizu geboren und war ein Abkömmling des alten Takeda-Clans, in dem die Techniken des bewaffneten und waffenlosen Kampfes seit Generationen weitergegeben wurden. Als Kind erhielt er von seiner Familie die strenge Ausbildung eines samurai. Sein Großvater Takeda Soemon (Großmeister des daitō ryū) lehrte ihn den unbewaffneten Nahkampf, Schwertkampf und Speerkampf und von seinem Vater Takeda Sokichi, 1819 - 1906) lernte er das Sumō-Ringen. Ab 1870 begann der Junge Sogaku mit dem Studium des Ono ha Itto ryū unter Meister Shibuya Toma aus dem Aizu-Clan. Dieser stellte den Jungen später dem in in Ōsaka lebenden Schwertmeister und Leiter der Kyoshin Meichi Schule, Momono I Shunzo (1826 - 1886) vor. 1875 wurde Takeda Schüler von Sakakibara Kenkichi (1829 - 1894), dem 14. Großmeister des Jikishinkage ryu. 1876 erhielt er das menkyo kaiden (Lehrerdiplom) der Schwertschule Ono ha Itto ryū. Im Juni desselben Jahres verstarb sein älterer Bruder, und die familiären Verpflichtungen führten ihn in seine Geburtsprovinz Aizu zurück. Nach seiner Rückkehr lernte er Saigo Tanomo kennen, der seinerzeit ein Schüler von Sogakus Großvater Takeda Soemon war. Saigo war zudem ein Schwertkämpfer in der Tradition des Mizoguchi ha Itto ryū und des Koshi ryū Gungaku. Takeda lernte von Saigo Tanomo aikibujutsu (Oshiki uchi) welches den Speer, das Schwert und andere Waffen mit einschloss. Das daitō ryū aikibujutsu war zu jener Zeit noch ein komplexes Kampfsystem, welches nage waza (Wurftechniken), osae waza (Haltetechniken), battojutsu (Schwertziehen und Schneiden mit dem Schwert), yarijutsu (Gebrauch des Speers) und torae waza (Fesselungstechniken) in sich vereinbarte.

Takeda Sōgaku war wahrscheinlich der stärkste Kampfkunstmeister Japans zu Anfang dieses Jahrhunderts. Nach allgemeiner Meinung hätte ihn zu Lebzeiten kein anderer Experte besiegen können. Sogar nach der Meiji-Restauration (1868) lebte er wie ein Krieger – auf einer lebenslangen Wanderschaft, um von den besten Meister zu lernen, sie herauszufordern und sich im Kampf zu testen. 1877 versuchte er sich den Rebellen unter Saigo Takamori anzuschließen, kam jedoch zu spät. Zwischen 1880 und 1898 wurde Takeda bekannt als einer der letzten Wanderkrieger (ronin) Japans, und seine Fähigkeiten in den Duellen brachten ihm schließlich den Namen Aizu han no ko tengu (kleiner Tengu des Aizu-Clans) ein. Nachdem jedoch bereits 1878 das Tragen von Schwertern öffentlich verboten wurde, nahmen die japanischen Autoritäten ihm sein Schwert weg, welches er auf seinen Reisen unerlaubterweise stets mit sich getragen hatte. Seine dauernden Konflikte mit dem Gesetz brachten ihn oft in Schwierigkeiten. Wäre Takeda heute noch am Leben, würde er zweifellos als exzentrisch gelten. Er wird als einer der letzten großen samurai Japans und gleichzeitig als Bindeglied zwischen dem Zeitalter der Samurai und der Moderne bezeichnet. Mehrere Jahre verbrachte er auf Kyūshū und soll sogar nach Okinawa und Taiwan gesegelt sein, um seine Fähigkeiten im Kampf mit den dortigen Meister zu testen. Doch regelmäßig kehrte er nach Fukushima zurück, um unter der Leitung von Saigo Tanomo zu trainieren.

Takeda lebte ein weitschweifiges Leben, meist an den Grenzen der Legalität. Da er beständig mit den Behörden in Konflikt war, verlagerte er das Zielgebiet seiner Reisen zunehmend in den nördlichen Teil Japans, das als das „Tibet Japans“, weit weniger den strengen Kontrollen der Behörden unterlag. In diesen Gebieten, in denen alle Abtrünnigen, Rebellen und Gesetzlose Zuflucht suchten und ein Leben außerhalb der Gesellschaft führten, fühlte er sich wohl. Er liebte nichts mehr als den Kampf mit den Banditen und schlug alle Angebote, in Tōkyō eine Schule zu eröffnen, aus. Sogar eine persönliche Einladung des amerikanischen Präsidenten Teddy Roosevelt, der von der Kampfkraft Takedas hörte, ließ er außer acht. Er lebte im Kriegszustand gegenüber allen, die ihn umgaben, war sehr vorsichtig (seine Schüler mußten sogar sein Essen vorkosten), duldete nie einen Menschen hinter seinem Rücken und hatte bis zu seinem Lebensende mehrere Kampfkunstexperten in Duellen getötet. Takeda Sōgaku, der Nachkomme des berühmten Takeda Shingen, Fürst der Provinz Kai, war der erste, der das alte Kampfsystem der Takeda auch Außenstehenden lehrte. In einem Gasthaus in Engaru (Ortschaft auf Hokkaidō) lehrte er seine Kunst, die er daitō ryū aikijutsu nannte, allerdings nur wenigen Schülern. Ansonsten reiste er in der Gegend umher und gab Seminare. Auf diese Weise soll er annähernd 30.000 Schüler gehabt haben. Noch als 83jähriger unterrichtete er selbst. Sein Sohn Takeda Tokimune, der heutige Vorstand des Daitokan erzählt, er habe einen sechsten Sinn für Menschen gehabt und habe ihre Gedanken lesen können. Seit 1910 lebte Takeda dann auf Hokkaidō und verließ die Insel nur selten. Er heiratete dort eine 30 Jahre jüngere Frau, die ihm sieben Kinder gebar (sie kam 1930 bei einem tragischen Feuer ums Leben). Der Meister selbst starb am 25. April 1943 im Alter von 83 Jahren am Bahnhof von Aomori auf Honshū. Die Tradition des daitō ryū (大東流 - „großer östlicher Stil“) wird heute unter anderem von seinem Sohn Takeda Tokimune (*1916) fortgesetzt.

Im Jahre 1915 brachte Yoshida Kentaro (1886 - 1964), der als in den USA tätiger Spion zeitweise auf Hokkaidō untertauchte, Ueshiba Morihei in Takedas dōjō, der ab sofort sein Schüler wurde. Ueshiba, der zweifellos Takedas berühmtester Schüler war, sollte die Tradition des daitō ryū jedoch später verlassen, um seine eigene Auffassung zu verwirklichen, deren Interpretationen wir heute als aikidō kennen.

Ueshiba Morihei

Ueshiba Morihei

Ueshibas Jugend

Ueshiba Morihei wurde am 14. Dezember 1883 in der Stadt Tanabe, Präfektur Wakayama, geboren. Er war der einzige Sohn einer wohlhabenden und traditionsreichen Samurai-Bauern-Familie, in deren Besitz viele Ländereien und das Muschelfangrecht für einen großen Bezirk in der Bucht von Tanabe waren. Die Tatsache, daß Ueshiba Morihei der alleinige Erbe dieses Vermögens sein würde, veranlasste seine Eltern dazu einen großen Wert auf seine Erziehung und Entwicklung zu legen, zumal er seit seiner Geburt leicht kränkelte. Die ersten 10 Jahre seines Lebens verbrachte der junge Morihei in der persönlichen Obhut seiner Mutter Yuki, die sorgsam darauf achtete, dass ihr Sohn keinerlei Strapazen ausgesetzt wurde. Da sie selbst aus einer sehr frommen Familie stammte, die der Shingon-Sekte angehörte, unterrichtete Yuki ihren Sohn in den Lehren des Shintōismus und Buddhismus und ließ ihn an ihren tägliche Zeremonien teilhaben. Bereits im Alter von fünf Jahren begleitete Morihei seine Mutter regelmäßig auf ihrer täglichen Pilgerreise zu einem Schrein in der Nähe ihres Wohnortes, an dem sie mit Morgengebeten den Tag begann. Doch als der einzige männliche Nachfolger einer Samurai-Familie musste Morihei gemäß den alten Traditionen auch eine Ausbildung in Kalligraphie und den chinesischen Klassikern erhalten. Daher ging er ab 1890 regelmäßig in den Jizodera-Tempel, um sich von dem Mönch Fujimoto Mizujo (+1947) unterrichten zu lassen. Zufälligerweise gehörte Fujimoto, ebenso wie Moriheis Mutter der Shingon-Sekte an, und schon nach kurzer Zeit hatte er den Jungen für die Riten der Sekte begeistert. Im Gegensatz zu den intellektuellen Lehren des Konfuzianismus beinhaltete das Shingon zahlreiche spektakuläre Zeremonien und mystische Gesänge, die dem Jungen interessant und abwechslungsreich erschienen, und anstatt sich fleißig in chinesischer Schrift und Sprache zu üben, stürzte sich der siebenjährige Morihei voller Eifer auf die spektakulären Praktiken des Shingon Buddhismus (später sollte Ueshiba von Fujimoto eine Urkunde erhalten, die ihn als Mystiker der Shingon-Rituale auszeichnete).

Auch während seiner späteren Ausbildungszeit hatte der junge Ueshiba immer wieder große Schwierigkeiten, sich dem für ihn vorgesehenen Lernstoff zu widmen. Anstatt mit Kunst und Literatur, beschäftigte er sich zum Leidwesen seiner Lehrer viel lieber mit Mathematik und Naturwissenschaften oder den mystischen Geheimnissen verschiedener buddhistischer Religionen. Bei jeder Gelegenheit zog er sich auf sein Zimmer zurück, um in seinen Büchern zu lesen, oder persönliche Experimente zu analysieren. Sein Vater Yoroku betrachtete die Entwicklung seines Sohnes voller Sorge. Als Nachkomme eines Geschlechts von ehemaligen Waffenmeistern der Daimyō-Familie Kii und nunmehr angesehenes Ratsmitglied des Dorfes, befürchtete er, dass sein Sohn zu einem verweichlichten Träumer und fanatischen Anhänger des esoterischen Buddhismus werden und so seine Aufgaben als würdiger Erbe nicht wahrnehmen könnte. Daher befahl er dem Jungen - nachdem dieser wieder einmal mehrere Stunden mit Tagträumereien verbracht hatte - mit Sumō-Ringen, Schwimmen und Bergsteigen zu beginnen, um seinen Körper zu kräftigen und zu realistischeren Dingen Zugang zu finden. Dies kam Ueshiba nicht ungelegen, da er dadurch die Gelegenheit hatte, den strengen Augen seines Vaters zu entfliehen, und den größten Teil des Tages in der freien Natur zu verbringen. Schon bald gewöhnte er sich an das Schwimmen im nahegelegenen Meer und an die stundenlangen Wanderschaften zu den abgelegenen Schreinen in die Berge. In der Abgeschiedenheit der Bergwelt widmete er sich weiterhin eifrig seinen persönlichen Studien. Mit der Zeit lernte er auch die schreckliche und zugleich wundersame Kraft der Natur zu lieben, zu achten und zu verstehen. Zu Ueshibas Leidwesen musste er seine Streifzüge durch die Berge jedoch immer wieder unterbrechen, um in den stickigen Klassensälen der Schule am Unterricht teilzunehmen. Gegen das Lernen selbst hatte er nichts einzuwenden, die vielen Bücher halfen ihm schließlich, seine Wissbegierde zu stillen, doch konnte er es nicht ertragen, längere Zeit in geschlossenen Räumen zu verbringen, ohne ungeduldig und gereizt zu werden. Schließlich überzeugte Ueshibas völlig entnervter Lehrer seine Eltern, ihn die Mittelschule abbbrechen zu lassen und ihn 1896 auf die Soroban-Akademie in Tanabe zu schicken. An dieser Schule hatte er nähmlich die Möglichkeit, sich seine Zeit selbst einzuteilen und frei zu entscheiden, ob er am Unterricht teilnehmen wollte oder nicht. Diese Tatsache machte sich schnell bemerkbar: Ueshibas Leistungen verbesserten sich zunehmend und bereits nach einem Jahr konnte er an der Akademie als Assistenzlehrer für Rechenkunde arbeiten. Kurze Zeit später hatte sich sein Ruf als ausgezeichneter Mathematiker sogar über die Akademie hinaus verbreitet, und 1900 bot man ihm eine Stelle als Buchhalter im Steuerbüro von Tanabe an. Voller Zuversicht, den tristen Mauern der Akademie zu entrinnen, nahm der junge Ueshiba die Stelle an und stürzte sich eifrig in die neue Aufgabe. Doch schon nach kurzer Zeit musste er erkennen, dass ihn diese viel zu trockene und wenig abwechslungsreiche Arbeit nicht ausfüllte. Gereizt und unzufrieden mit sich selbst und seinem Leben schloss er sich schließlich einer Protestbewegung an, die für die Abschaffung eines neu eingeführten Gesetztes eintrat. Der Enthusiasmus, mit dem Ueshiba für das Anliegen der Gruppe eintrat, machte ihn schnell zum Führer derselben, kostete ihn jedoch seinen Arbeitsplatz und die Freundschaft seines Vaters, der als Stadtrat für die Inkraftsetzung dieses Gesetzes verantwortlich war.

Als die Protestbewegung schließlich zerschlagen wurde, stand Ueshiba vor großen Schwierigkeiten. Ohne Arbeitsplatz und Lebensaufgabe und im Streit mit seinem Vater, wusste er nichts mehr mit sich anzufangen. Die Familie entschied schließlich, dass ein Ortswechsel ihm gut tun würde und schickte ihn gegen Ende des Jahres 1901 mit einer kleinen finanziellen Unterstützung nach Tōkyō. Für Ueshiba war dies ein Sprung ins kalte Wasser, da er zum ersten mal auf eigenen Beinen stand und ohne die Hilfe seiner Familie zurechtkommen musste. Doch er genoss auch die neu gewonnene Freiheit und begann gleich nach seiner Ankunft in Tōkyō mit einer Kaufmannslehre, von der er sich erhoffte, seinen Lebensunterhalt bestreiten zu können. Er besorgte sich einen Schubkarren und zog von Haus zu Haus um Büro- und Schulbedarf an wohlhabende Familien zu verkaufen. Anfangs war dies ein zermürbender Job, doch nach einigen Anlaufschwierigkeiten begann sein Geschäft zu florieren, und er stellte sogar einige Helfer ein. Nun hatte er etwas Freiraum, um sich an den Abenden seinen persönlichen Interessen widmen zu können. Er begann in verschiedenen dōjō Kampfkunst zu üben (wahrscheinlich tenshin shinyō-ryū und shinkage-ryū), um einen Ausgleich zu seiner harten Arbeit zu finden. Trotzdem lag auf ihm der größte Teil der Verantwortung für seine Selbständigkeit und nach einiger Zeit rächten sich die langen Arbeitsstunden mit unregelmäßigem Essen und der junge Unternehmer wurde schwer krank. Anfang Herbst 1902 war er schließlich gezwungen, sein Geschäft ohne Entgelt seinen Angestellten zu überlassen, um zu seiner Familie nach Tanabe zurückzukehren.

Nach seiner Genesung heiratete er im Oktober - vor allem auf Druck seines Vaters - Itogawa Hatsu, eine entfernte Verwandte seiner Mutter und versuchte, sich mit der Tatsache anzufreunden, dass er nun auch die Pflichten eines Familienvaters übernehmen musste. Auf der Suche nach einer neuen Lebensaufgabe und mit der Erkenntnis, dass ihn das Familienleben nicht befriedigen konnte, verfiel Ueshiba schon kurz nach seiner Hochzeit in eine krankhafte Ruhelosigkeit und Gereitztheit. Auch die Zeremonien der Shingon-Sekte, die er nach seiner Rückkehr wieder aufgenommen hatten, brachten ihm nicht die erhoffte Seelenruhe. Schließlich entschloss sich Ueshiba, freiwillig der Armee beizutreten, um seinem Vaterland in dem herannahenden russisch-japanischen Krieg zu dienen und wenigstens darin eine Lebensaufgabe zu finden (andere Quellen berichten, daß Ueshiba zusammen mit allen anderen kriegstauglichen Männern vom japanischen Heer eingezogen wurde). Er stellte sich ein gut durchdachtes Trainingsprogramm zusammen, mit dessen Hilfe er seinen geschwächten und kranken Körper stärken wollte, um die strenge Aufnahmeprüfung beim Militär zu bestehen. Tagtäglich schwamm er lange Strecken im Meer, lief schwer bepackt mehrere Kilometer durch die Berge und nutzte die Kräfte der Natur, um bei Stürmen und Taifunen seinen Körper zu stählen. Nach einigen Monaten der Übung war sein körperliche Verfassung schließlich so gut, dass er sich seines Erachtens bedenkenlos dem Test stellen konnte. Um so größer war seine Enttäuschung, als man ihm mitteilte, dass er um wenige Zentimeter unter der erforderlichen Körpergröße liege (Ueshiba war nur 1.57 m groß) und folglich nicht rekrutiert werden könne. Nachdem die anfängliche Verbitterung verflogen war, stürzte sich Ueshiba noch stärker in sein Training, fest entschlossen, in die Armee aufgenommen zu werden. Gleichzeitig versuchte er, seine Körpergröße zu verändern, indem er mit verschiedenen Übungen sein Rückrad zu strecken begann und einen immensen Muskelaufbau betrieb, um die fehlenden Zentimeter durch physische Stärke zu kompensieren. Allen Erwartungen zum Trotz bestand er schließlich eine Zusatzuntersuchung und wurde einer Reservetruppe zugeteilt, die in der Nähe von Osaka stationiert war. In den darauf folgenden Monaten lernte Ueshiba das harte Leben und die unerbittliche Disziplin innerhalb der kaiserlichen Armee kennen und lieben. Mit dem festen Vorsatz ein Held seines Vaterlandes zu werden, meldete er sich zu jedem freiwilligen Dienst und nutzte jede Gelegenheit, um der Beste seiner Truppe zu werden. Zur Verbesserung seiner Fertigkeiten im Nah-, Schwert-, Lanzen- und Speerkampf, besuchte er Nakai Masakatsu, einen Meister des Goto ha Yagyu ryū. Das dōjō des Kampfkunstmeisters war in Sakai, einem entfernten Vorort Ōsakas, und Ueshiba begann schon nach kurzer Zeit im Militär fast täglich diesen Weg auf sich zu nehmen, um unter Nakai zu trainieren. Die Unermüdlichkeit, mit der sein neuer Schüler seine Übungen zu verbessern versuchte, gefiel dem Meister und im Laufe der Jahre entwickelte sich zwischen den beiden eine lockere aber vertrauensvolle Verbindung (1908 sollte Ueshiba von Nakai sogar die Lehrerlizenz des Goto ha Yagyu ryū erhalten). Während seiner Trainingszeit bei Nakai, begegnete Ueshiba auch einem Jūjutsuka namens Handa, der ein Schüler von Takeda Sogaku war und sich für einige Zeit in Ōsaka aufhielt. Über ihn hörte Ueshiba zum ersten Mal vom daito ryū aikijutsu und erhielt einen kurzen Einblick in diese Kunst, was für ihn jedoch erst zu einem späteren Zeitpunkt von Bedeutung sein würde.

Im Februar 1904 brach schließlich der von Ueshiba lang ersehnte russisch-japanische Krieg aus. Nachdem er jahrelang dafür trainiert hatte, sah der junge Rekrut nun endlich die Gelegenheit gekommen, sich im Kampf verdient zu machen. Ein Jahr lang beantragte er immer wieder seine Versetzung von Osaka an die asiatische Front, doch sein Vater hatte ohne sein Wissen verschiedene Briefe an hochrangige Offiziere geschrieben und mit Hilfe seines Einflusses dafür gesorgt, dass sein Sohn und Erbe aus dem eigentlichen Kriegsgeschehen herausgehalten wurde. Man versetzte Ueshiba 1905 folglich in ein Regiment in der Mandschurei, das kaum in Kämpfe verwickelt wurde, und so kehrte er nach Kriegsende unversehrt aber kriegsunerfahren nach Japan zurück. Doch auf sein ständiges Drängen bei seinen Vorgesetzten schlug man ihn endlich für die höhere Militärschule vor, die ihm eine Karriere als Offizier eröffnen sollte. Aber wiederum machte sein besorgter Vater seinen Einfluss geltend und bewirkte, dass sein Sohn sowohl zur Aufnahmeprüfung für die Akademie abgelehnt und anschließend sogar aus dem Militär entlassen wurde. Ohne Perspektiven kehrte Ueshiba daraufhin schweren Herzens zu seiner Frau nach Tanabe zurück.

Doch schon bald nach seiner Heimkehr begann er in tiefe psychische Depressionen zu verfallen. Obwohl sich seine Familie nun rührend um ihn kümmerte und ihm neue Aufgaben zu geben versuchte, konnte sie ihm nicht dabei helfen, seinen Sinn und Platz im Leben zu finden. Über die Jahre wurde der junge Mann immer ruheloser und unzufriedener mit sich selbst, verfiel grundlos in Angstzustände, litt unter Paranoia und hegte Selbstmordabsichten. Er unternahm lange Pilgerreisen in die Berge, um sich von den Kräften der Natur läutern zu lassen und schloss sich für mehrere Tage in sein Zimmer ein, um Zeremonien abzuhalten oder zu beten. Letztendlich hatte sich der psychische Zustand Ueshibas so sehr verschlechtert, dass die Familie ernsthaft um sein Leben bangte. In der Not kurz entschlossen baute der Vater auf seinem Familiensitz ein dōjō, in dem sich Morihei seiner Kampfkunst widmen und dadurch vielleicht einen Ausweg aus der hoffnungslosen Situation finden konnte. Tatsächlich veränderte diese Maßnahme die Einstellung des jungen Mannes positiv und die Familie konnte neue Hoffnungen schöpfen.

Im Jahre 1909 begegnete Ueshiba einem Mann, der ihn vorübergehend aus seiner misslichen Lage befreien sollte: Minakata Kumakusa (1867-1941). Minakata, ein bekannter Exzentriker und geachteter Mystiker, war zufälligerweise gerade von einem langen Auslandsaufenthalt in seine Heimatstadt Tanabe zurückgekehrt und wurde schon bald darauf mit dem depressiven Ueshiba bekannt. Die beiden hatten sich auf einer Protestkundgebung getroffen, die sich gegen das Vorhaben der Regierung richtete, religiöse Gedenkstätten und Gebetsschreine aus der umliegenden Gegend größtenteils zu entfernen. Unter der Führung Minakatas gelang es der von ihm organisierten Protestgruppe schließlich, vier Fünftel der Stätten zu erhalten, und Ueshiba erhielt durch den positiven Ausgang dieser Sache neuen Lebensmut. Zudem hatte er während seiner Arbeit für die Protestbewegung in Minakata und in dessen absonderlichem Wesen einen Menschen gefunden, dem er vertraute und der ihn faszinierte. Mit Hilfe dieser neuen Freundschaft lernte Ueshiba wieder mit beiden Beinen auf dem Boden zu stehen, und erkannte schon bald, dass Tanabe nicht der Ort war, an dem er sich selbst und seine Zukunft verwirklichen wollte. Als noch im selben Jahr von der Regierung ein Aufruf gestartet wurde, durch den freiwillige Pioniere gesucht wurden, die die unbewohnte Insel Hokkaidō besiedeln sollten, sah Ueshiba darin die geeignete Chance, ein neues Leben anzufangen.

Experimente auf Hokkaidō

Im Jahre 1910 unternahm Ueshiba Morihei seine erste Reise zu der spärlich bewohnten Insel Hokkaidō. Er fuhr zunächst allein, da er für die späteren Pioniere einen geeigneten Ort für die erste Siedlung finden und die dortigen Umweltbedingungen inspizieren wollte. Bereits der erste Eindruck Hokkaidōs vermittelte Ueshiba das Gefühl, endlich am Ziel seiner Suche angelangt zu sein. Wenig später hatte er zu seiner Freude dann auch schon eine Gegend mit fruchtbarem Boden und genügend Trinkwasser entdeckt, die für die Pioniere wie geschaffen schien, und er kehrte sogleich nach Tanabe zurück, um so viele Freiwillige wie möglich für dieses Projekt zu gewinnen. Nach zwei Jahren hatte Ueshiba schließlich eine Gruppe von 84 Siedlern um sich versammelt, die bereit waren, die Strapazen und Risiken einer solchen Pionierreise auf sich zu nehmen. Als man jedoch begann, das Unternehmen zu planen, musste Ueshiba zu seinem großen Entsetzen feststellen, dass die Gruppe nicht genügend Mittel aufbringen konnte, um die Reise zu finanzieren. Das Vorhaben stand kurz vor dem Abbruch, bis sich schließlich Ueshibas Vater, der sich um das seelische Wohl seines Sohnes sorgte, erbarmte und die anstehenden Kosten für die gesamte Gruppe aus eigener Tasche bezahlte. Nachdem auch dieses letzte Hindernis beseitigt worden war, konnten die Abenteurer am 29. März 1912 endlich die lang ersehnte Reise nach Hokkaidō antreten. Ueshiba reiste zunächst ohne seine Familie, da seine Frau 1911 ihr erstes Kind (eine Tochter namens Matsuko) geboren hatte und erst später nachkommen wollte.

Die ersten drei Jahre in Shirataki auf Hokkaidō entpuppten sich für die Pioniere entgegen ihrer Erwartungen als reiner Alptraum. Während ihrer Reise sorgten mehrere Schneestürme dafür, dass sie ihr Ziel erst am 20. Mai 1912 erreichten. Da Ueshiba Hokkaidō zuerst im Sommer besucht hatte, hatte er das widrige und unberechenbare Klima des Winters nicht einberechnet und musste sich schwere Vorwürfe seiner Landsleute gefallen lassen. Trotzdem sie eine Gegend mit fruchtbarem Boden ausgesucht hatten, gelang es ihnen anfangs nicht, einen guten Ertrag zu erzielen und waren gezwungen, sich von wilden Nüssen, Flußfischen und Wurzeln zu ernähren. Schließlich lernten die Siedler jedoch, sich der Natur anzupassen und Dank ihres unermüdlichen Einsatzes entwickelte sich zusehends ein kleines eigenständiges Dorf.

Die vielen unerwarteten Schwierigkeiten stellten für Ueshiba eine große Herausforderung dar, die ihm endlich den gesuchten Sinn im Leben gaben, und es ihm ermöglichten, als treibende Kraft für das Wohl der neuen Siedlung zu sorgen. Unermüdlich half er, wo er konnte, wurde Ratsmitglied des Dorfes und organisierte verschiedene Einrichtungen, die sich um das Gesundheitswesen und die sanitären Anlagen kümmerten. Selbst die große Feuersbrunst, die 1916 fast das gesamte Dorf zerstörte, entmutigte den Pionier nicht, sondern trieb ihn zu noch größeren Kraftanstrengungen an. Zusätzlich zu der schweren Arbeit in der Siedlung versuchte Ueshiba, seine gewohnten Zeremonien und Trainingseinheiten weitgehend beizubehalten. Er ergriff jede Möglichkeit, seinen Körper zu stählen und seine Fertigkeiten in den Kampfkünsten zu verbessern. Die täglich zu verrichtende Arbeit führte er mit speziell angefertigten Werkzeugen und Hilfsmitteln aus, die ihm die einzelnen Handgriffe noch erschwerten, der persönliche Fortschritt im jūjutsu wurde an wilden Bären und Straßenräubern getestet, und in öffentlich ausgetragenen Wettkämpfen beeindruckte er die Pioniere mit seinen nicht enden wollenden Siegen. Eines Tages jedoch (um 1915) traf Ueshiba auf Takeda Sogaku, den wahrscheinlich stärksten Kampfkunstmeister und Wanderkrieger dieser Zeit, der sich gerade zufällig auf Hokkaidō aufhielt.

Ueshiba und Takeda Sōgaku

Takeda Sōgaku Minamoto Masayoshi stammte aus der Provinz Aizu und war ein Nachkomme der berühmten Takeda-Fürsten dem Fürstentum Kai, die seit mehr als zwei Jahrhunderten in Aizu im Exil lebten. Sein Großvater Takeda Soemon unterrichtete ihn persönlich in den alten Kampfkünsten der Takeda und sein Vater Takeda Sokichi, lehrte ihn das Ringen. Ab 1870 studierte er in Tōkyō den Schwertstil ono ha itto ryū unter Meister Toma Shibuya und nur fünf Jahre später das jikishinkage ryū unter Kenkichi Sakakibara. Nach sechs Jahren der Übung erhielt er das menkyo kaiden im ono ha itto ryū, doch da sein Bruder zur gleichen Zeit verstarb, kehrte er nach Aizu zurück. Dort angekommen lernte er Saigo Tanomo, einen Meisterschüler seines Großvaters im aikibūjutsu kennen und wurde dessen Schüler.

Die darauffolgenden Jahren sollten Takedas Leben grundlegend ändern und ihm den zweifelhaften Ruf eines kriegerischen rōnin (arbeitsloser samurai) einbringen, den er bis zu seinem Lebensende behielt. Auf der Suche nach den besten Kämpfern zog er durch ganz Japan, um sich mit ihnen zu messen, von ihnen zu lernen oder seine bisherigen Fähigkeiten zu testen. Als einer der letzten Wanderkrieger geriet er immer wieder in Konflikt mit den Behörden, die die alten Samurai-Praktiken in der neuen japanischen Gesellschaft nicht dulden wollten und ihn zeit seines Lebens verfolgten. Takeda scherte sich wenig um die Gesetze, bestritt zahllose Duelle auf Leben und Tod und lebte in jeder Beziehung das Leben eines samurai - er trug sein Schwert öffentlich mit sich und reagierte auf Ehrbeleidigungen mit einer Herausforderung. Seine vielseitigen Erfahrungen in echten Kämpfen ließen ihn zum wahrscheinlich stärksten Kämpfer jener Zeit werden. Seine unzähligen Siege in Duellen machten ihn schon zu Lebzeiten zu einem Mythos, doch auch zu einem der meistverfolgten Männer Japans. Nach einigen Jahren war er zunehmend öfter gezwungen, im nördlichen Hokkaidō unterzutauchen und seine Reisen durch das streng kontrollierte japanische Hauptland wurden immer riskanter. Trotzdem kehrte er immer wieder nach Fukushima zurück, um unter Saigo Tanomo zu trainieren. 1910 ließ er sich auf Hokkaidō nieder und begann in einem Gasthaus in Engaru seine Kampfkunst, das daito ryū aikijutsu, zu unterrichten. Seine Fähigkeiten waren den Siedlern auf Hokkaidō von großem Nutzen, denn obwohl sich Takeda selbst immer am Rande der Gesellschaft bewegte, war es ihm zu verdanken, dass die Pioniere weitgehend von Übergriffen gesetzloser Rebellen und Straßenräubern verschont blieben.

Das erste Zusammentreffen Ueshibas mit Takeda fand über Yoshida Kentaro (1886 - 1964) statt, der aus ähnlichen Gründen wie Takeda auf Hokkaidō untergetaucht war. Kentaro hatte Ueshiba auf dessen Bitte zu einem Training in Takedas dōjō in Engaru mitgenommen, damit er dort einen Einblick in das sagenumwobene daito ryū bekam, von dem Ueshiba schon früher gehört hatte. Als der neugierige Pionier der Demonstration Takedas zusah, wußte er vom ersten Augenblick an, daß der innere Frieden, den er auf Hokkaidō zu finden geglaubt hatte, nur Illusion war. Von den außergewöhnlichen Fähigkeiten des schmächtigen Meisters begeistert, bat er diesen inständig, ihn als Schüler aufzunehmen, was dieser schließlich auch tat. Von nun an sollte Ueshiba jede freie Minute nutzen, um die Techniken des daito ryū zu lernen und seinen Lehrer auf dessen Reisen zu begleiten. Gleich zu Anfang hatte er seinem stets mittellosen Meister angeboten, in seinem Haus zu wohnen, um ihn für den erhaltenen Privatunterricht zu entschädigen, den auf andere Weise er nicht begleichen konnte. Doch dieses Angebot kam ihm teuer zu stehen. Jeden Morgen musste er in aller Frühe aufstehen, um seinem Lehrer das Bad vorzubereiten, Frühstück zu machen und das Zimmer zu heizen, bevor dieser aufwachte. Ueshiba erledigte für Takeda Sōgaku sämtliche anfallende Haushalts- und sonstige lebensnotwendige Pflichten, massierte ihn täglich über eine Stunde lang und wusch ihm den Rücken. Jede neue Technik, die er lernen durfte, musste er extra bezahlen und obwohl Ueshiba nie öffentlich darüber sprach, hört man heute von seinen Schülern, dass ihn die Lehre des daito ryū ein kleines Vermögen kostete. Takeda war aufgrund seiner kriegerischen Erfahrungen ein sehr vorsichtiger Mensch: er verlangte von Ueshiba, dass dieser sein Essen und seine Getränke vorkostete, ihm in der Öffentlichkeit als Leibwächter diente, das Gelände sondierte, Kontaktpersonen überprüfte und ihm in jeder Begegnung den Rücken freihielt. Takeda vermied jedes unübersichtliche Gelände und verhielt sich extrem misstrauisch gegenüber allem und jedem. Doch all dies störte Ueshiba nicht im geringsten - für ihn war der Unterricht unter Takeda von unschätzbarem Wert. Die Ruhelosigkeit seiner Jugend hatte ihn wieder gepackt und verstärkte nun seine reifer gewordenen Sehnsucht nach dem Ideal, das ihm mehr bedeutete als jeder materieller Besitz. Als er schließlich 1919 ein Telegramm aus Tanabe erhielt, in dem ihm mitgeteilt wurde, dass sein Vater schwer erkrankt im Sterben lag, zögerte er keinen Augenblick, sein Haus Takeda Sōgaku zu übertragen, seinen restlichen Besitz unter den Siedlern aufzuteilen und Hokkaidō für immer zu verlassen. Damit fand die Ausbildungszeit Ueshibas unter Takeda ihr vorläufiges Ende, doch sollten sich die beiden Meister später unter veränderten Verhältnissen nochmals treffen.

Deguchi Onisaburo und die Ōmoto kyō

Obwohl sein Vater schwer krank war und im Sterben lag, entschloss sich Ueshiba Morihei, nicht direkt nach Tanabe zurückzukehren. Statt dessen reiste er nach Ayabe, um dort Kontakt mit die Sekte Ōmoto kyō (大本教) zu besuchen, deren unglaublicher Ruf sich bis nach Hokkaidō verbreitet und Ueshiba neugierig gemacht hatte.

Die Ōmoto kyō („Sekte der großen Quelle“) war eine der vielen neuen Religionen, die im Japan der zwanziger Jahre entstanden war und beim Volk großen Zulauf fand. Sie wurde von Deguchi Nao, der Tochter eines Kleinbauern gegründet, die nach einem Schlüsselerlebnis begann, die Lehre eines allumfassenden Gottes zu verbreiten, dessen unendliche Liebe das beherrschende Prinzip des Universums sei. Vor allem Mystizismus, die Hoffnung auf Erlösung und die Verkündung von Gottes Willen durch seine Prophetin Deguchi Nao, charakterisierten den anfänglichen Inhalt dieser Sekte. Im Jahre 1907 übernahm Deguchi Onisaburo, der Adoptiv- und Schwiegersohn Naos, den Vorstand über die Sekte und begann ihre Lehre nach seinen eigenen Vorstellungen zu verändern. So führte er unter anderem die Praktiken der kotodama ein, auf denen er den späteren Inhalt seiner Lehren aufbaute. Historiker führen die kotodama auf die Lehre des shintōismus zurück und bezeichnet sie als eine der wichtigsten Grundlagen in der Erziehung des japanischen Gesellschaftsgeistes. Ihre Anhänger sdelbst bezeichnen diese Lehre als die einzig wahre überhaupt, und schreiben sie dem buddhistischen Shingon Mönchen Kūkai zu, der sie im 9. Jahrhundert aus China mitgebracht haben soll. Für die Kampfkünste bekam kotodama später besonders durch Ueshiba Morihei Relevanz, der das Prinzip von Deguchi Onisaburo lernte und die Übung des aikidō als eine Ausdrucksform der kotodama ansah.

Ein grundlegender Inhaltspunkt der Lehre besagt:

„Nichts kann existieren ohne den Menschen, den er ist durch sein Wesen der Gründer des Bewusstseins. Wenn die Dinge auf diese Weise betrachtet werden, ist der Mensch gleich Gott und Gründer des Universums. Diese einfache Wahrheit war vor 4.000 Jahren für unsere Ahnen die Grundlage des Überganges von der materiellen in die spirituelle Welt der Götter (kami). Dadurch integrierte sich der Mensch als individuelle Persönlichkeit in die Sphäre des Geistigen und in die Ära des Göttlichen. Dadurch überging die materielle Zivilisation in eine perfekte Entwicklung des Geistigen und durch die Praktik einer universellen Sprache öffnet sich der Weg zum Garten Eden. Diese Sprache vermittelt das Prinzip der kotodama futo mani: die 50 Töne Gottes (kana), die Grundsubstanz der Logik. Wer das kotodama praktiziert und sein Inneres darin perfektioniert, versteht in den 50 Tönen das Wort Gottes und wird selbst zum göttlichen Menschen. Nachdem 144.000 Übende dieses meisterliche Stadium erreicht haben, ist die Zeit des neuen Messias gekommen der alle weltlichen Dinge neu ordnet.“

Gleich nach seiner Ankunft in Ayabe hatte Ueshiba die Möglichkeit, an einem Gebetsgottesdienst der Sekte teilzunehmen, und da ihm die Schilderungen über die Ōmoto kyō schon zu Anfang spontan gefallen hatten, nahm er bereitwillig daran teil (gleichermaßen wollte er wahrscheinlich auch seines todkranken Vaters in einem rituellen Akt gedenken). Nach dem Gottesdienst kam Deguchi selbst zu Ueshiba, und nach einem längeren Gespräch konnte er diesen davon überzeugen, einige Zeit in Ayabe zu bleiben, um in die Grundzüge der Sekte eingeführt zu werden. Am 28. Dezember 1919 verließ Ueshiba schließlich Deguchi, völlig begeistert von den Lehren der Ōmoto kyō, und kehrte nach Tanabe zurück, um seinen Vater zu sehen. Dieser war jedoch bereits am 2. Januar 1920, wenige Tage vor Ueshibas Ankunft, verstorben und übermittelte ihm nun durch seine Verwandten seinen letzten Willen: „Laß dich nicht beirren, sondern gehe den Weg, den du wirklich willst.“ Voller Selbstvorwürfe und unter der scharfen Kritik seiner Verwandtschaft, die ihm vorwarf, mutwillig nicht rechtzeitig zurückgekommen zu sein, zog er sich in die Berge zurück, um dort mit sich selbst und seinen Gefühlen ins Reine zu kommen. Doch die Einsamkeit bescheerte ihm schon bald einen völligen Absturz seines seelischen Befindens. In einem total verwirrten und verwahrlosten Zustand wurde er schließlich von der Polizei aufgegriffen und entging aufgrund seines psychisch gestörten und aggressiven Verhaltens nur knapp einer Verhaftung. Doch fand der Trauernde durch diese ernüchternde Konfrontation mit dem Gesetz endlich wieder auf den Boden der Tatsachen zurück und entwickelte neuen Lebensmut. Um seinen Seelenfrieden wieder zu finden, beschloss Ueshiba so dann, mit seiner Familie nach Ayabe zu ziehen und sich den Praktiken der Ōmoto kyō ganz zu widmen. In der Isolation des Sektenlebens erhoffte er sich einen neuen Lebenssinn.

Verständlicherweise waren weder die Familie noch Ueshibas Ehefrau mit diesem Vorhaben einverstanden, und sie erklärten ihn für vollkommen verrückt. Anstatt für den Lebensunterhalt seiner hochschwangeren Frau und seiner beiden Kinder zu sorgen, wollte er sich ausschließlich der Lehre dieser Sekte widmen. „Bezahlen die Götter deinen Lebensunterhalt,“ fragte man ihn, doch es dauerte nicht lange, bis Ueshiba seine Frau zu diesem Umzug endgültig überredet hatte, und noch im Frühjahr 1920 konnten sie gemeinsam ihr neues Leben in Ayabe beginnen. Anfangs hatte Ueshiba dieselben Pflichten zu erfüllen wie jedes andere Sektenmitglied auch. Da sich die Ōmoto kyō darum bemühte, weitgehend autark von der Gesellschaft zu leben, mussten ihre Anhänger neben allen rituellen Aufgaben zusätzlich jeden Tag handwerkliche oder landwirtschaftliche Arbeiten verrichten. Die Pflicht des Aikijutsu-Meisters war es zum Beispiel, für die Kompostierung aller anfallenden Abfälle zu sorgen, was ihn jedoch nur wenig störte, da er seiner Meinung nach nun endlich die wahre Methode entdeckt hatte, mit der er seine Suche nach der Erleuchtung fortsetzen konnte. Doch von Rückschlägen des Schicksals blieb er nicht verschont, denn noch im selben Jahr seiner Ankunft starben seine beiden Söhne an einer schweren Krankheit. Nichts desto trotz hatte er schnell die verschiedenen Philosophien und mystischen Praktiken der Ōmoto kyō gelernt und widmete sich ihnen voller Begeisterung. Deguchi Onisaburo, dem Leiter der Sekte, war Ueshibas Offenheit für seine Lehren schon bei ihrer ersten Begegnung aufgefallen und da er wusste, dass Ueshiba in den Kampfkünsten ausgebildet war und das Prinzip der Sekte lautete, jedes persönliche Können im Dienste der Religion zu perfektionieren, riet er Ueshiba, in Ayabe ein dōjō zu bauen und die Anhänger der Sekte im daito ryū zu unterrichten. Mit diesem Rat erhoffte er sich natürlich auch ausgebildete Leibwächter, die ihn in den vielen schwierigen Situationen, die er im Laufe seines Lebens noch überstehen mußte, beschützen konnten. Zudem hütete Ueshiba bis zu dem Tag, an dem er die Ōmoto kyō verließ, das Leben seines Lehrers wie seinen Augapfel und als persönlicher Leibwächter begleitete er Deguchi auf jede Veranstaltung und bei jeder seiner Reisen. Doch nach und nach erhielten Deguchis Lehren, die anfangs nur der Erlösung und dem Erscheinen des zukünftigen Messias galten, immer mehr nationalistischen Charakter. Das erklärte Ziel der Religion war zwar nach wie vor das Erreichen von satori (Erleuchtung), durch die eine Verbindung zwischen der praktizierten Lehre und der alltäglichen Handlung hergestellt werden konnte: „Kunst ist die Essenz der Religion“, lehrte Deguchi und hielt jedes seiner Mitglieder dazu an, in seinem alltäglichen Handwerk die Kraft des Universums zu verwirklichen. Dafür jedoch verlangte er die völlige Isolation von der Außenwelt und entmündigte seine Anhänger vom Leben in der Gesellschaft. Anstelle dessen bot er ihnen eine in die Sekte integrierte Lebensweise, in der von der Selbstverpflegung angefangen, bis zur Familiengründung alles in eigener Regie organisiert war. Laut Deguchi würden alle Nationen der Welt, entsprechend ihres Entwicklungsstandes irgendwann in der Zukunft dieselbe Phase der Erkenntnis durchmachen und sich nach Abschluss ihrer Experimente im Mittelpunkt der einzig wahren Weltwahrheit vereinigen: im „Weltreich des Friedens“ dessen geographisches Zentrum Ayabe,und dessen einziger Herrscher er selbst sei. Um seine Lehren zu verbreiten und den Beginn des prophezeiten Weltreiches vorzubereiten, begann Deguchi verschiedene Zeitschriften und Wörterbücher zu veröffentlichen (er schrieb unter anderem über 600.000 Gedichte und das sogenannte Reiki monogatari - Erzählungen aus der geistlichen Welt - das die Basis seiner Lehre beinhaltete, aber sich auf das Ofudesaki - Buch der Gründerin - beruft), Verbindungen zu ähnlichen Sekten zu knüpfen und Organisationen in Japan (Dai Nippon Budo Senyo kai und Jinrui Aizen kai) und China (Föderation der Weltreligionen) zu gründen. Nach und nach sollte Deguchis Sekte so einen immer fanatischeren und nationalistischeren Charakter bekommen. Das erklärte Ziel aller Tätigkeiten der Ōmoto kyō war letzten Endes, alle Völker der Erde im japanischen Reich zu vereinigen, in dem Deguchi als gottgewordener Mensch als alleiniger Herrscher regierte. Esperanto und romanisiertes Japanische sollten alle Sprachen der Welt ersetzen. Deguchi selbst begann sich abwechselnd als Shintō-Gott (Susanoo no mikoto), als wunderwirkender Schamane, als buddhistischer Gott (Miroku-Buddha), als die sieben Naturgottheiten in einer Person und schließlich als den einzig rechtmäßigen japanischen Kaiser (tenno - 天皇) zu bezeichnen. Seine rethorischen Fähigkeiten, seine herausragende Menschenkenntnis und sein großer Intellekt verhalfen ihm schließlich dazu, nicht nur einfache Menschen, sondern auch wohlhabende Geschäftsleute und sonstige Mitglieder aus den höchsten Kreise der japanischen Gesellschaft für seine Lehren zu gewinnen. Der paramilitärische Charakter der Sekte und die Tatsache, dass diese mit über zwei Millionen Mitgliedern einen autarken Staat in Japan gegründet hatte, der sich über eigenständige Landwirtschaftsbetriebe ernährte, riesige besiedelte Ländereien besaß und über ein enormes Vermögen verfügte, erregte seit langem das Misstrauen der Behörden. Als Deguchi schließlich mit Imitationen der drei heiligen kaiserlichen Insignien (sanshū no jingi - 三種の神器), Schwert (kusanagi no tsurugi - 草薙剣), Spiegel (Yata no kagami - 八咫鏡) und Juwel yasakani no magatama -八尺瓊曲玉), auftrat und den Sturz des amtierenden Kaisers (tennō) öffentlich voraussagte, war die Geduld der Behörden endgültig erschöpft. Die Ōmoto kyō war der Regierung schon seit ihrer Entstehungszeit ein Dorn im Auge. Obwohl es zu jener Zeit viele Vereinigungen mit ähnlichen Lehren wie der Deguchis in Japan gab, hatte es dieser fertiggebracht, einen gut funktionierenden Apparat von einflußreichen Anhängern um sich herum aufzubauen. Seine rhetorischen Künste und die spektakulären Riten der Ōmoto kyō hatten unzählige Menschen angezogen und sie für die radikalen Ideen seiner Lehren zugänglich gemacht. Auch wenn die Visionen Deguchis, ein Weltreich unter seiner Herrschaft zu gründen, sehr illusorisch waren und für den Kaiser keine tatsächliche Bedrohung darstellten, wurden die Behörden in bezug auf die Ōmoto kyō zunehmend nervöser. Im Februar 1921 wurde Deguchi daher schließlich des Hochverrats am Kaiser angeklagt und verhaftet. Kurz darauf stürmten Regierungsbeamte das Zentrum der Ōmoto kyō und verwüsteten weitgehend alle Wohnanlagen der Mitglieder.

Ueshiba selbst blieb von diesem ersten öffentlichen Vorgehen im Jahre 1921 gegen die Ōmoto kyō glücklicherweise zunächst verschont. Obwohl er bereits damals schon in einer festen freundschaftlichen Beziehung zu Deguchi stand, war er den Behörden noch nicht negativ aufgefallen und wurde somit nicht belangt. Doch hatte die Razzia der Polizei zur Folge, dass seine Familie nun ohne Wohnsitz und Lebensgrundlage blieb. Zu ihrer aller Glück hatte Ueshiba jedoch einen kleinen Lebensmittelvorrat angelegt, von dem sie in der ersten Zeit leben konnten. Im Juni 1921 wurde dann sein dritter und einzig überlebender Sohn Kisshomaru geboren, und nur wenig später fand die vorübergehende Armut der Familie ihr Ende, da Deguchi Onisaburo bereits vier Monate nach seiner Verhaftung wieder auf Kaution freigelassen wurde und direkt nach seiner Ankunft in Ayabe mit dem Wiederaufbau der zerstörten Gebäuden begann. Auch das ehemalige dōjō Ueshibas wurde wieder errichtet, und als im April 1922 Takeda Sogaku mit seiner gesamten Familie unangemeldet nach Ayabe kam , war es selbstverständlich, daß nach altem Budō-Brauch der Altmeister den Unterricht der Sektenmitglieder vorübergehend übernahm. Nachdem Takeda jedoch mehrere Tage mit den Sektenmitgliedern verbracht hatte, wurde sein Widerwillen gegen ihre fanatischen Ansichten schließlich so groß, dass er bei jeder Gelegenheit seine Verachtung für die Sekte und ihren Führer deutlich zeigte. Es dauerte nicht lange, bis auch Deguchi die Gegenwart Takedas als störend zu empfinden begann und er Ueshiba dazu drängte, sich von seinem Lehrer endlich zu trennen: „Dieser Mann stinkt nach Blut und Gewalt“, und im September desselben Jahres, nur vier Monate nach der Ankunft Takedas in Ayabe, kam es zum endgültigen Bruch zwischen Lehrer und Schüler, und die Freundschaft, die Ueshiba mit seinem Meister so lange verbunden hatte, wurde zerstört (ob Ueshiba damals dennoch die Lehrerbestätigung des daito ryū von Takeda erhielt, bleibt bis heute fraglich. Einige behaupten sogar, dass Sogaku von der Sekte umgerechnet 10.000 Dollar erhalten hätte, damit er endlich abreiste und sich nie mehr bei der Ōmoto kyō blicken ließe).

Ueshiba hatte sich nun voll und ganz der Ōmoto kyō-Sekte und der Loyalität zu seinem Lehrer Deguchi Onisaburo verschrieben. Unermüdlich beschäftigte er sich mit den Praktiken der Sekte und widmete sich der Übung und dem Unterricht im daito ryū. Sein Tag begann vor Sonnenaufgang mit Gartenarbeiten und endete spät am Abend mit persönlichen Studien. Der Schwerpunkt seiner Übungen lagen in jener Zeit auf dem Studium der Kotodama und deren Übertragung in die Techniken des daito ryū. Mit den gewonnenen Erkenntnissen begann Ueshiba allmählich, die Prinzipien seiner Kampfkunst immer mehr zu verändern, bis daraus eine esoterischere aber auch zugleich kriegerische Kampfkunst entstanden war, die er Aikibujutsu (Kampfkunst der Harmonie) nannte. Die neue Lehre Ueshibas unterschied sich im Grunde nicht wesentlich von der extrem körperlich betonten Kampfkunst, die er vorher geübt hatte. Einzig die Philosophie der Ōmoto kyō war in einigen Punkten stärker mit einbezogen worden. Die innere Ruhe, die Ueshiba durch seine Beschäftigung mit den Lehren der Ōmoto kyō erlangt hatte, war jedoch nur von kurzer Dauer. Obwohl er ein tief religiöser Mensch war und sich mit seinem Lehrer Deguchi gut verstand, stieß sein Auftreten bei den anderen Sektenmitgliedern zunehmend auf Widerstand. In ihren Augen hatte er sich zu einer zwar fähigen aber intoleranten Autorität entwickelt, die keinerlei Fehlverhalten am Mitmenschen duldete, nur elitäre Sektenmitgieder akzeptierte und jeden Durchschnittsmenschen verachtete. Die meisten Menschen begannen Ueshiba zu meiden und schlossen ihn aus ihrer Gemeinschaft aus. Diesen Charakterzug sollte er bis zum Ende seines Lebens beibehalten und bezüglich seiner späteren Schüler noch steigern.

Das mongolische Abenteuer

Zu diesem inneren Unfrieden kamen gleichzeitig erneute Schwierigkeiten mit den Behörden, die die radikalen Ansichten Deguchis als Anlass für eine noch stärkere Verfolgung der Sekte nahmen. In der Nacht zum 13. Februar 1924 sah sich Deguchi schließlich gezwungen, mit einigen seiner engsten Anhänger aus seiner Hochburg zu fliehen, um einer drohenden Verhaftung zu entgehen. Da Ueshiba seinen Lehrer selbstverständlich als Leibwächter begleitete, verließ auch er an diesem Tag Ayabe und seine Familie.

Bereits vor seiner Flucht hatte Deguchi von einem Mann namens Yutaro Yaru eine Einladung in die Mandschurei erhalten. Yaru war ein loses Mitglied der Ōmoto kyō und arbeitete für die Gesellschaft des Schwarzen Drachen, einem berüchtigten nationalistischen Geheimbund, dessen fanatische Mitglieder die Mandschurei an Japan annektieren wollten. Das Ziel dieser Gesellschaft, der auch viele Kampfkunstmeister der damaligen Zeit angehörten, war, den japanischen Einfluss in der Mandschurei mit allen Mitteln zu verstärken und das Gebiet endgültig unter die Kontrolle Japans zu bringen. Dazu unterhielt sie in der Mandschurei ein Spionagenetz und arbeitete nach alten Ninja-Methoden im Untergrund mit Anschlägen und Terrorismus. Deguchi schien ihnen daher aufgrund seiner großen Austrahlung auf die Massen und seiner nationalistischen Gleichgesinnung wie geschaffen, ihre Interessen zu vertreten.

In auswegsloser Situation folgte Deguchi Yarus Einladung. Der Sektenführer wusste natürlich, dass Yaru ihn im Auftrag des Bundes benutzen wollte, ging jedoch davon aus, die Absichten der Nationalisten rechtzeitig zu durchschauen und in der Mandschurei sein ersehntes „Reich des Friedens“ gründen zu können. In der Nacht seiner Fluch aus Ayabe brach er schließlich in Begleitung von Matsumura (Rechtsanwalt, der nach der Gründung seines Friedensreiches das Gesetzbuch verfassen sollte), Nada (persönlicher Friseur, der für sein optisches Erscheinungsbild verantwortlich war) und Ueshiba (Leibwächter, verantwortlich für die Sicherheit) auf, um über Korea illegal in die Mandschurai zu reisen. Dort angekommen, zeigte sich der damalige Mandschu-Kaiser Tchang Tso-Lin (1873 - 1928), dem Deguchis Vision von einem „Reich des Friedens“ imponierte, den Anhängern der Ōmoto kyō gegenüber zunächst wohlwollend und unterstützte diese sogar bei der Gründung ihrer „Unabhängigen Armee des Nordwestens“, unter deren Schutz sie durch das unsichere Land reisen und ihre Religion dem Volk vermitteln wollten. In Fengtian traf die Expedition schließlich mit den Anhängern der „Schwarzen Drachen“ zusammen, die mit Hilfe von Lou Tch´an Kouei, dem Anführer einer kriminellen Untergrundorganisation, Deguchis Schutztruppe auf 130 Mann verstärkten. Zu Deguchis Leidwesen stellte sich seiner Mission doch ein kleines Problem in den Weg. Der shintōistische Glaube, auf dem die Prophezeiungen der Ōmoto kyō hauptsächlich beruhten, war nicht dazu geeignet, die buddhistischen Mandschus erfolgreich zu überzeugen. Doch fiel es dem Sektenführer aufgrund seiner Flexibilität und seines Einfallsreichtums nicht schwer, im Handumdrehen eine neue Religion zu gründen - den Ōmoto-Buddhismus. Dieser war nun ganz auf den einheimischen Glauben der Bevölkerung zugeschnitten und Deguchi bezeichnete sich je nach Situation als Maitreya (Inkarnation des zukünftigen Buddha) oder als Dalai Lama. Er predigte das Himmelreich auf Erden (Shambhala), in dem sein Anwalt Matsumura ein Panchen Lama und Ueshiba Wang Shou Kao (König der Beschützer) war. Innerhalb weniger Monate waren Deguchi und seine Anhänger fast durch die ganze Mongolei gereist und hatten den barbarischen Bewohnern den Himmel auf Erden und den Beginn eines neuen Königreichs der Güte und Gerechtigkeit gepredigt. Als Dalai Lama der aufsteigenden Sonne oder als Zweiter Dschingis Khan heilte Deguchi Kranke, bewirkte Wunder und verteilte Reis und Salz. Zwar wurde seine Expedition immer wieder von Wegelagerern angegriffen, doch nahm Ueshiba diese Vorfälle gerne als Gelegenheit, um die Effektivität seiner tödlichen Techniken zu testen und dabei natürlich das Leben seines Lehrers zu schützen. Angeblich bewahrte ihn sein sechster Sinn davor, auch nur ein einziges Mal durch einen Angriff überrascht oder verletzt worden zu sein.

Nach kurzer Zeit jedoch erfuhr der Kaiser von Deguchis Verbindung zu den japanischen Untergrundorganisationen und vermutete Verrat. Durch eine plötzliche militärische Intervention ließ er die 130 Mann starke Armee der Ōmoto kyō in Baian Dalai verhaften und alle Angehörigen auf der Stelle hinrichten. Einzig Deguchi, Ueshiba und die beiden anderen entkamen dem Tod und wurden ins Gefängnis geworfen. Dem mandschurischen Kaiser erschien die Hinrichtung der Japaner zu riskant, da er eine japanische Militärinvasion als unmittelbare Folge darauf zu befürchten hatte. So kehrten Deguchi und seine Getreuen am 25. Juli 1924 unversehrt nach Japan zurück, mit der Gewissheit und Überzeugung, dass die Zeit für das neue Königreich des Friedens noch nicht gekommen war. Doch gleich nach ihrer Ankunft in Japan wurde Deguchi verhaftet, da er die Bewährungsauflage Ayabe nicht zu verlassen verletzt hatte. Die Sekte wurde strenger als je zuvor kontrolliert und Deguchis Anhänger mussten eine ganze Zeit lang ihre gesamten öffentlichen Aktivitäten einstellen, um die Behörden zu besänftigen. Wie durch ein Wunder blieb Ueshiba auch dieses Mal von einer Anzeige verschont, und er begann wieder mit dem Training - doch sein Wesen hatte sich verändert. Die Erfahrungen, die er in der Mongolei gemacht und die Tatsache, dass er mehr als einmal dem Tod ins Auge geblickt und eigenhändig mehrere Gegner getötet hatte, distanzierte ihn noch mehr von dem Durchschnittsmenschen und verlieh ihm einen unerbittlichen Charakterzug.

Sein durch Gefahren geschärfter intuitiver Sinn hatte sich durch das mongolische Abenteuer so stark entwickelt, daß er die Trainingsinhalte des aikibujutsu total veränderte. Das Hauptziel seiner Übung war nun, den Angriff eines Gegners zu erkennen, bevor dieser Realität würde. Die vielen Menschen, die durch seine eigene Hand den Tod gefunden hatten, nahmen dem Meister jeden Schrecken vor dem Tod, aber auch den Respekt vor dem Leben. Er scheute sich nicht mehr, den realistischen Kampf auf Leben und Tod zu üben und von seinen Schülern die Betrachtungsweise desselben zu verlangen. Sofort führte er in seinen Unterricht die Übung mit scharfen Klingenwaffen ein und befahl seinen Schülern, ihn damit anzugreifen und zu versuchen, ihn zu töten. Vor allem das Training mit Lanzen und Schwertern bildete in diesen Tagen den Hauptteil des Unterrichts, und mehrere der damaligen Schüler Ueshibas erinnerten sich später, dass ihr Meister sich wie eine „wutentbrannte Gottheit“ durch das dōjō bewegt hatte. Doch auch diese extreme Art des Trainings reichte nicht aus, Ueshiba in seinem neu entstandenen Realitäts-Idealismus zu befriedigen, und er begab sich auf die Suche nach höherer Perfektion. Die wichtigsten Stationen seiner Reise waren die Naichi-Wasserfälle bei Kumano, wo er sich den esoterischen Lehren und Mysten der Yamabushi unterzog. Diese Studien veränderten den Kampfkunstmeister aufs Neue. Er entwickelte eine ungeheure Ausstrahlung und Dominanz in seiner Persönlichkeit, was viele Menschen beeindruckte aber auch zutiefst erschreckte. Legenden entstanden über seine geheimnisvollen und schrecklichen Kräfte, die angeblich Gegenstände bewegen und eine Person ohne Berührung verletzen konnten. Ungläubige Kampfkunstexperten kamen zuhauf in Ueshibas dōjō, um den „Zauberer von Ayabe“ zu sehen und seine Fähigkeiten zu testen. Keinem der vielen Herausforderer gelang es jedoch, den Meister im Kampf zu gefährden. So sehr sie sich auch bemühten, Ueshiba ließ ihre Angriffe ins Leere laufen und spielte mit ihnen wie mit Anfängern. Er begegnete seinen Gegnern immer mit einem Lächeln im Gesicht und verletzte nie jemanden. Voller Staunen erzählte man bald von dem mysteriösen Meister und seiner Kampfkunst, durch deren Beherrschen man jeden Gegner ohne Anstrengung, mit einem Lächeln auf den Lippen besiegen konnte.

Nach einem dieser Kämpfe ging Ueshiba, um seinen Geist zu klären, im Garten seines dōjō spazieren. Nachdem er sich an einem Brunnen das Gesicht gewaschen und etwas von dem kühlen Wasser getrunken hatte, begann er, unter den Bäumen auf und ab zu spazieren. Wie aus heiterem Himmel schien jedoch plötzlich der Boden unter seinen Füßen zu beben und aus der Erde stieg ein goldener Nebel. Als er von seinen Schülern später zu diesem Moment befragt wurde, erzählte er: „Mein ganzer Körper erzitterte unter dieser Kraft der Natur, und auf einmal spürte ich, daß die Erde und der Himmel eins sind. Eine spirituelle Energie umgab meinen fleischlichen Körper und verwandelte ihn in eine goldene Hülle. Ich sah das Göttliche und gelangte zu einer Erleuchtung, die wahr, siegreich und sicher ist. Auf einmal verstand ich die Natur der Schöpfung: der Weg des Kriegers soll die göttliche Liebe offenbaren, einen Geist, der alle Dinge schützt und ernährt. Tränen der Dankbarkeit und Freude rannen über meine Wangen. Ich sah das ganze Universum als mein Zuhause und die Sonne, den Mond und die Sterne als meine Freunde an. Jede materielle Gebundenheit an die Dinge verschwand. Und als mich die Erde zurückholte, hatte ich verstanden, daß das Budo unnütz ist, wenn es dem Siegen dient. Budo darf nicht zum destruktiven Werkzeug werden, sondern muß der Harmonie mit dem Universum dienen und der Welt den Frieden bringen“.

Ueshiba demonstriert Aikidō-Techniken (Zeichnung M. Lind)

Ueshiba tritt in die Öffentlichkeit

Nach diesem Ereignis, das heute von Ueshibas Schülern als seinen Eintritt in die Erleuchtung (satori) bezeichnet wird, schien der Meister unheimliche Fähigkeiten zu entwickeln. Es war für ihn angeblich ein leichtes, schwere Felsbrocken zu versetzen oder riesige Distanzen zu überspringen. Tatsächlich könnte man sagen, dass Ueshiba von diesem Zeitpunkt an über einen stark ausgeprägten sechsten Sinn verfügte und eine enorme physische Stärke entwickelt hatte. Infolgedessen verbreitete sich Ueshibas Ruf schnell und immer mehr Menschen kamen, um das Wunder von Ayabe mit eigenen Augen zu sehen. Unter ihnen waren auch Nishimura Shutaro, der beste Kämpfer des Jūdōkan der Waseda-Universität und Tomiki Kenji, dessen bester Schüler, die sich beide nach einem kurzen Zusammentreffen mit Ueshiba eingestehen mussten, dass dieser weitaus besser als der beste Kämpfer war, dem sie je begegnet waren. Auch Takeshita Isamu, ein Admiral des Kaisers und Gönner vieler Kampfkunstmeister (er unterstützte unter anderen auch Funakoshi Gichin und Kanō Jigorō‎), hatte von dem „Zauberer“ gehört, und da ihn die Kunst Ueshibas sehr interessierte, lud er diesen im Herbst 1925 zu einer Demonstration in Tōkyō ein. An diesem Geschehen nahmen viele hohe japanische Würdenträger der Kampfkünste teil, die ebenfalls gespannt auf die Vorführung Ueshibas warteten. Dieser sorgte schließlich auch für wahre Begeisterungsstürme, als er im Laufe seines Programms 125 Pfund schwere Reissäcke aufspießte und diese ohne ein Korn zu verlieren hin und her bewegte. Die Folge seiner spektakulären Darbietung war, dass die faszinierten Behörden ihm sogleich anboten, im Aoyama-Palast für hochrangige Jūdō- und Kendō-Lehrer verschiedene Weiterbildungskurse zu veranstalten.

Nachdem der erste Kurs, den Ueshiba ohne zu zögern annahm, nach 21 Tagen erfolgreich und mit begeisterten Teilnehmern beendet worden war, begannen jedoch mehrere hohe Beamte des Kaisers, die Fortführung dieses Projektes zu beanstanden. Sie störten sich an Ueshibas Verbundenheit mit Deguchi und erklärten, dass die Regierung durch die Unterstützung des Meisters die Aktivitäten der Ōmoto kyō legalisiere und forderten die sofortige Distanzierung des Staates von allen weiteren Pläne dieser Art. Als Ueshiba davon erfuhr, verließ er Tōkyō noch am selben Tag und kehrte beleidigt zu Deguchi nach Ayabe zurück. Doch der Sektenführer war mit dieser Entscheidung des Kampfkunstmeisters nicht einverstanden, und ermahnte ihn: „Deine Lebensaufgabe besteht darin, der Welt die wahre Bedeutung des Budo zu vermitteln. Folge deiner Bestimmung und gehe deinen eigenen Weg.“ Somit war klar, dass sich Ueshiba von der Sekte trennen musste, um seine Lebensaufgabe erfüllen zu können. Folglich kehrte der Kampfkunstmeister bereits wenige Monate später (1926) Ayabe den Rücken und zog nach Tōkyō, um sich dort niederzulassen und ein neues Leben zu beginnen. Das vorherige Misstrauen der Beamten gegen Ueshiba hatte sich wie durch einen Zufall in Nichts aufgelöst, und innerhalb kürzester Zeit erwarb sich der Kampfkunstmeister mit Hilfe des Admirals Takeshitas unter den höheren Militärs begeisterte Gefolgsleute und gruppierte eine reiche Gönnerschaft um sich. Unglücklicherweise war der ständige Ärger mit den Behörden und die Strapazen des mongolischen Abenteuers jedoch nicht ohne Nachwirkungen geblieben und Ueshiba wurde in Tōkyō schwer krank. Die großen Belastungen und das nährstoffarme Essen hatten seinen Magen und seine Leber angegriffen, und so kehrte er nach Ayabe zurück, um dort in Ruhe genesen zu können. Sechs Monate später war er wieder gesund und in der Lage Ayabe diesmal für immer zu verlassen. Und nachdem er bereits vorher seine finanzielle Situation durch großzügige Gönner soweit gefestigt hatte, dass er mit seinem Einkommen auch seine Familie versorgen konnte, zögerte der Kampfkunstmeister nicht lange und zog mit seiner Frau und seinen Kindern im September 1927 nach Tōkyō - wohlwissend, dass nun ein neuer Lebensabschnitt beginnen sollte.

Ueshibas Umzug nach Tōkyō

Die ersten Jahre nach Ueshibas endgültigem Umzug nach Shiba Shirogane in Tōkyō stellten sich für den Kampfkunstmeister trotz kleinerer Schwierigkeiten nicht als sonderlich problematisch heraus. Die Tatsache, dass Ueshiba schon vor seiner Krankheit unter der sogenannten High-Society Tōkyōs sehr bekannt und hoch geachtet war, sorgte dafür, dass er viele Schüler aus hohen Armee- und Marinerängen, Adlige und einflussreiche Unternehmer unterrichten konnte. Da es ihm anfangs jedoch finanziell nicht möglich war, einen eigenen Trainingsraum zu bauen, stellten seine Gönner ihm kurzerhand passende Zimmer in ihren eigenen Wohnanlagen zur Verfügung.

Im Laufe der Zeit wurde Ueshiba schließlich auch in den unteren Schichten der Bevölkerung immer bekannter, wozu nicht zuletzt sein unter Deguchi ausgebildeter Sinn für übernatürliche Darstellungen beitrug. Die vielen Legenden um seine Übernatürlichkeit entstammten nicht zuletzt seinem eigenen außergewöhnlichen Talent zur Präsentation von Sensationen, die das Volk stets in Erstaunen versetzte. So soll sich der Meister angeblich auf einem militärischen Stützpunkt, dessen Soldaten für ihre gute Nahkampfausbildung bekannt waren, ganz allein einer 40 Mann starken Truppe zum Kampf gestellt und diese innerhalb kürzester Zeit ohne große Schwierigkeiten besiegt haben. In einem anderen Fall soll er einem Exekutionskommando, das mit scharfer Munition auf ihn schoß, gegenübergestanden und die Kugeln durch die Kraft seines Geistes daran gehindert haben, ihn zu töten. Diese und andere Experimente ließ er von hochrangigen Armeeoffizieren und persönlichen Schülern stets belegen, deren Propagande die Legendenbildung im Volk wie bei keinem anderen Meister seiner Zeit vorantrieb. Glaubhafter erscheint jedoch die Geschichte von dem Zeitungsverkäufer Isshi, der eines Tages in das dōjō Ueshibas kam, um den Meister um Unterricht zu bitten. Da sich an diesem Tag keine anderen Schüler im dōjō befanden, trainierte Isshi alleine mit Ueshiba. Gegen Ende des Trainings unterbrach der Meister plötzlich die Übung seines Schülers und wies diesen an, sich einen Speer zu greifen und damit zu versuchen, ihn zu töten. Doch Isshi weigerte sich, an diesem Experiment Ueshibas teilzunehmen, aus Furcht davor, seinen Lehrer zu verletzen. Der Meister versicherte Isshi immer wieder, dass dieser für eventuelle Folgen auf keinen Fall zur Rechenschaft gezogen würde, der Zeitungsverkäufer jedoch konnte seine Angst nicht überwinden, führte nur halbherzige Angriffe mit dem Speer aus und brachte damit Ueshiba schließlich dazu, das Experiment abzubrechen. Solche und ähnliche Geschichten steigerten das Ansehen des Meisters unter der sensationslustigen Bevölkerung natürlich ungemein, und nach anfänglicher Skepsis kamen sogar besorgte Väter zu Ueshiba, die ihre Töchter in seiner effektiven Selbstverteidigungskunst unterrichten lassen wollten, um sie gegen Angriffe gewalttätiger Lustmolche zu schützen.

Im Jahr 1930 hatte sich Ueshiba schließlich so gut in allen Gesellschaftsschichten Tōkyōs etabliert, dass er zusammen mit einem festen Schülerstamm in Meijirodai endlich ein eigenes dōjō eröffnen konnte. Durch diese Neuerung hatte der Kampfkunstmeister nach einigen Jahren wieder die Möglichkeit, sein persönliches Studium des aikijutsu zu intensivieren. Er widmete sich fortan nun in jeder freien Minute ausschließlich dem Unterricht und dem Studium seiner Kampfkunst. Im Sommer 1930 erhielt Ueshiba von Kanō Jigorō, der zum wiederholten Male versuchte, mit ihm Kontakt aufzunehmen, eine Einladung in den Kōdōkan, doch weckte dies nicht die geringsten Interessen in Ueshiba, und er lehnte die Einladung ohne weiteren Kommentar ab. Kanō jedoch, dessen Wunsch, Ueshiba zu sehen, immer größer wurde, ließ sich von den immer wiederkehrenden Absagen nicht irritieren. Die begeisterten Erzählungen seiner Schüler, die sich bei verschiedenen Gelegenheiten von den Fähigkeiten des Aikijutsu-Meisters überzeugen konnten, veranlassten Kanō schließlich, Ueshiba selbst aufzusuchen. Im Oktober 1930 reiste der Begründer des Jūdō nach Meijirodai, um sich über Ueshibas aikijutsu eine eigene Meinung zu bilden. Schon nach einer kurzen Demonstration musste Kanō feststellen, dass diese Kunst die Realisierung seiner eigenen Vorstellungen darstellte. Er selbst hatte seinen Schülern immer gepredigt, dass das Geheimnis des Jūdō im korrekten Umgang mit jeder nur erdenklichen Situation liege. Die Worte „Verneige dich vor deinem Gegenüber, wenn er vor dich tritt - schicke ihn auf seinen Weg, wenn er dich verläßt.“, beinhalteten die Essenz seiner eigenen Lehre, die er zum erstenmal perfekt verwirklicht in Ueshibas aikijutsu sah. Entgegen Kanōs Begeisterung für Ueshiba konnte dieser dem Jūdō-Meister keine Achtung entgegenbringen. Nachdem er mit den besten Kämpfern des Kōdōkan wie eine Katze mit Mäusen gespielt hatte, war der Aikidō-Meister von der Sinn- und Wirkungslosigkeit des Judō zutiefst überzeugt und zeigte dies darauf unverhohlen bei jeder Gelegenheit. Nach einer dieser erneut peinlichen „Herausforderung“ seiner Schüler soll Kanō in Gegenwart Ueshibas beschämt zugegeben haben, dass Jūdō im Grunde nur eine Art Leibesertüchtigung sei. Die Folge dieses Vorfalls war natürlich, dass im Laufe der Zeit immer mehr gute Schüler den Kōdōkan verließen, um unter Ueshiba „das perfekte Budō“, wie es selbst Kanō bezeichnete, zu lernen. Auch begannen viele Jūdōkas als Ergänzung zu ihrem Jūdō-Training mit der Übung des aikijutsu. Ueshiba weigerte sich jedoch stets, Kanōs Schülern die Essenz seiner Kampfkunst zu zeigen, da er beständig Angst hatte, diese könnten ihm seine Techniken stehlen und in die Kōdōkan-Systeme einführen. Selbst Mifune Kyuzo, ein hochangesehener Kampfkunstmeister des Kōdōkan wurde auch nach mehrmaligen und eindringlichen Bitten nicht als Schüler angenommen.

Unter den höchstgraduiertesten Schülern, die Kanō verließen um aikijutsu zu studieren, war Hoshi Tetsuomi, ein 6. dan des Kōdōkan. Wie viele andere auch, hatte Hoshi den Aikidō-Meister zu einem Zweikampf herausgefordert, um dessen sagenumwobenen Fähigkeiten zu testen. Zu seiner großen Verwunderung musste der Jūdōka jedoch feststellen, dass er dem Kampfkunstmeister haushoch unterlegen war, und von Ueshiba ohne die geringste Kraftanstrengung unaufhörlich zu Boden geschleudert wurde. Nach einer dieser schmählichen Niederlage gab Hoshi seine Graduierung kurzentschlossen an den Kōdōkan zurück und begann gewissenhaft mit dem Training unter Ueshiba. Doch nicht nur die ehemaligen Schüler des Kōdōkan profitierten von ihrem Wechsel zu Ueshiba. Auch der Kampfkunstmeister erhielt durch die Vorbildung seiner neuen Schüler einige bereichernde Erkenntnisse. So gelang es Hoshi zum Beispiel während eines Trainings einmal beinahe, Ueshiba, der an ihm gerade etwas demonstrierte, mit einem überraschend angesetzten Jūdō-Wurf zu Fall zu bringen. Der Aikijutsu-Meister konnte erst im letzten Augenblick sein Gleichgewicht wiederfinden und dadurch den Wurf neutralisieren, was er sich später Zeit seines Lebens immer wieder bewusst vor Augen führte: „Selbst wenn du dich unter deinen Schülern oder vertrauten Menschen bewegst, solltest du dich nie in Sicherheit wiegen und deine Aufmerksamkeit vernachlässigen.“

Die Gründung des Kobukan

1931 gab Ueshiba schließlich die provisorische Trainingshalle in Mejirodai auf und zog mit seinen Schülern nach Wakamtsu cho, einem Restrikt Tōkyōs. Dort hatte man ihm ein großes dōjō mit festen Wohnräumen gebaut, das der Kampfkunstmeister noch im April desselben Jahres einweihte und feierlich auf den Namen Kobukan (皇武館) - „kaiserliche Halle der Krieger“) taufte. Damit hatte der Aikijutsu-Meister seiner Kampfkunst endlich den offiziellen Charakter gegeben, der es ihm ermöglichte, sich in den Reihen der japanischen Kampfkünste zu etablieren und über die Grenzen Tōkyōs bekannt zu werden. Diese Neuerung um Ueshiba zog selbstverständlich im ganzen Land seine Kreise und erreichte schließlich auch Takeda Sogaku, der es sich nicht nehmen ließ, seinen ehemaligen Schüler kurz nach der offiziellen Einweihung für einige Wochen zu besuchen. Doch hatte sich die Kampfkunstauffassung der beiden Meister zu diesem Zeitpunkt bereits so sehr voneinander entfernt, dass sie sich nicht mehr verstanden und für immer trennten.

Die extra eingerichteten Wohnräume im Kobukan gaben Ueshiba nun auch zum ersten Mal Gelegenheit, uchi deshi (innere Schüler) aufzunehmen, die bei ihm übten und lebten. In der Auswahl der uchi deshi war der Meister sehr wählerisch, und akzeptierte nie mehrere als 10 persönliche Schüler. Jeder, der als solcher aufgenommen werden wollte, musste zwei Sponsoren vorweisen, die ihn über seine Lehrzeit hinweg finanziell unterstützten, benötigte ein Empfehlungsschreiben von einem anerkannten Kampfkunstmeister und musste in einem persönlichen Gespräch mit Ueshiba diesem interessant genug erscheinen. Die Traininge der uchi deshi waren sehr hart und brachten dem Kobukan bald die Bezeichnung jigoku dōjō („Trainingsstätte der Hölle“) ein.

Der bekannteste Schüler Kanōs, der in jener Zeit von Ueshiba als uchi deshi aufgenommen wurde, war Shioda Gozo. Dieser hatte in der Absicht, die Effektivität seiner Jūdōtechniken zu testen, kläglich gegen Ueshiba versagt und wurde nach diesem Kampf am 23. Mai 1932 im Alter von 17 Jahren Ueshibas persönlicher Schüler. Er sollte später einer der Haupterben von Ueshibas Kampfkunst werden, obwohl er einer jener Schüler war, die die spätere Linie Ueshibas verließen.

Zu jener Zeit wurden noch weitere berühmte Budōka, vor allem aus Kanō Jigorōs Kōdōkan seine Schüler, unter ihnen auch Mochizuki Minoru und Tomiki Kenji. Da sich Ueshiba mit seiner Kampfkunst in jener Zeit in einer Ära des Studiums und der Selbstversuche befand, konnte jedes Training im Kobukan zum Abenteuer werden. Der Meister erarbeitete ständig neue Formen der Bewegung und zog seine Schüler als Testpersonen heran, um dieses oder jenes auszuprobieren. Sein Unterricht enthielt keinen systematischen Aufbau, sondern unterlag dem jeweiligen Stadium seiner Forschung. Es kam nicht selten vor, dass eine Technik, die an dem einen Tag erübt worden war, am nächsten Tag schon wieder vollständig abgeschafft wurde. Gleichzeitig beschäftigte sich der Aikijustu-Meister zu diesem Zeitpunkt intensiv mit der Übung des Kendō und richtete sogar eigens dafür im Kobukan eine spezielle Schwertkunstabteilung ein, in der jeder Schüler zusätzlich trainieren sollte. Sein Adoptiv- und Schwiegersohn Nakakura Kiyoshi, der auch ein Meisterschüler von Nakayama Hakudo, einem bekannten Kendō-Meister, war, leitete zunächst diese Traininge, verließ das dōjō seines Adoptivvaters jedoch, nachdem er sich mit diesem wegen dessen fanatischer Bekenntnis zur Ōmoto kyō überworfen hatte.

Shirata Rinjiro (1912 - 1993), einer der ersten uchi deshi des Aikijutsu-Meisters erzählte über diesen Abschnitt seiner Lehrjahre:

„Wir mußten zu jener Zeit alle Auseinandersetzungen annehmen und immer gewinnen. Der Sensei sprach uns das Recht ab, gegen irgendjemanden zu verlieren. Ueshiba-Sensei trainierte ebenso hart wie wir alle. Alle, die ihn kannten, waren verblüfft über den außergewöhnlichen Eindruck von Kraft, die er entwickelte. Doch er trainierte immer allein und gab keinerlei Anweisungen. Wir sollten ihn aufmerksam beobachten aber lernen mußten wir allein.“

Ueshiba war immer ein unangenehmer Lehrer, unberechenbar für seine Schüler, stets launisch und gereizt, doch er faszinierte durch seine ungeheure Ausstrahlung von Domminanz und Kraft. Damit zwang er zeit seines Lebens zahllose Menschen in seinen Bann und faszinierte sie durch die unwiderstehliche Ausstrahlung seiner Persönlichkeit. Zusätzlich zu seinem Training am Kobukan unterrichtete er bis 1942 auch in verschiedenen anderen dōjō (Sonezaki dōjō, Suida dōjō und Otsuka dōjō) und entwickelte Fertigkeiten, die es ihm selbst als Fünfzigjährigem erlaubten, mühelos mehrere bewaffnete Gegner mit der bloßen Hand zu besiegen. Um seine Erfahrungen seinen Schülern zugänglich zu machen, hatte er bereits 1933 im privaten Kreis ein Lehrbuch mit dem Titel „Budō Renshu“ veröffentlicht. Dieses Werk - heute ein Liebhaberobjekt für Sammler - enthält Erläuterungen zu seiner damaligen Kampfkunstauffassung und mehrere Zeichnungen, die von Kunigoshi Takako (*1909), der besten Schülerin des Kobukan jener Zeit, angefertigt worden waren. 1958 und 1961 erschienen zwei Filme „Koichi Tohin“ und „König des Aikido“ mit Ueshiba im Interview und verschiedenen Demonstrationen des Meisters.

Die folgenden Jahre sollte der Kampfkunstmeister dazu nutzen, um ungestört der Weiterentwicklung seines aikijutsu nachzugehen. Viele einflussreiche Persönlichkeiten standen in engem Kontakt mit Ueshiba, da dieser sie entweder selbst oder einer ihrer Verwandten unterrichtete. Sogar Mitglieder der kaiserlichen Familie und der damalige Premierminister General Hideki Tojo zählte zu seinen Schülern. Auch die Tatsache, dass in dieser Zeit viele Schüler der berühmten Judō-Hochburg Kōdōkan zu Ueshiba kamen, um sich von ihm unterrichten zu lassen, kam dem Ruf des aikijutsu zu gute und schnell etablierte sich Ueshiba zu einem der anerkanntesten Budō-Lehrer der Nation. Später, nach Kanōs Tod im Jahre 1948, übernahm er die unangefochtene Spitze in der Hierarchie der japanischen Budo-Meister. Doch bis dahin sollte er noch einige Schwierigkeiten zu überwinden haben.

Am 8 Dezember 1935 brachten die ehemaligen Verbindungen zur Ōmoto kyō den Kampfkunstmeister erneut in Schwierigkeiten. Da Deguchi Onisaburo seine Aktivitäten nach seiner Haft in großem Maß verstärkt hatte (er verband sich mit verschiedenen ähnlich aufgebauten Organisationen, um seiner Sekte den Rücken zu stärken), entschloss die japanische Regierung, die Macht der Sekte für immer zu zerstören. Polizei- und Militärbeamte stürmten den Hauptsitz der Omoto kyo und zerstörten die Gebäude vollständig. Deguchi Onisaburo wurde erneut verhaftet, und mit ihm 500 weitere Mitglieder der Organisation. Im Zuge dieser Aktion wurde auch ein Haftbefehl gegen Ueshiba erlassen, dessen frühere Kontakte zur Sekte und die Tatsache, dass er seit 1932 dem Dai Nihon Budo Senyo Kai vorstand, für die Regierung Grund genug erschien, den Kampfkunstmeister unter Arrest zu stellen. Zudem hatte Ueshiba einige Zeit lang der Sakura Kai (ultranationalistische Vereinigung, die einen Putschversuch plante) gestattet, den Kobukan als Treffpunkt zu nutzen, was verständlicherweise dazu führte, dass der Kampfkunstmeister auf der schwarze Liste der Behörden stand. Durch einen glücklichen Umstand hielt sich Ueshiba jedoch zu diesem Zeitpunkt gerade in Ōsaka auf, dessen Polizeichef, Kenji Tomita (+1977), sein Schüler war. Tomita gelang es mit Hilfe seines Einflusses, die Behörden Kyōtos davon zu überzeugen, dass die Gründe nicht ausreichen würden, um Ueshiba vor Gericht zu stellen und veranlasste dessen Entlassung aus dem Gefängnis von Ōsaka. Wieder in Freiheit, verließ Ueshiba auf dem schnellsten Wege Ōsaka und tauchte bei einem seiner Schüler unter. Gleichzeitig eilte Ueshibas Schwiegersohn, Nakakura Kiyoshi, in den Kobukan von Tōkyō und verbrannte alle belastenden Beweise, die bei einer Razzia die Überzeugungsarbeit Tomitas sicherlich zunichte gemacht hätten. Nachdem auch der inhaftierte Deguchi den Behörden versichert hatte, daß Ueshiba nie ein Mitglied des engsten Kreises in der Ōmoto kyō gewesen war, ließ die Regierung schließlich den Haftbefehl gegen den Aikijutsu-Meister fallen.

Als die Gefahr endlich gebannt war, begann Ueshiba wieder mit dem Unterricht. Nach wie vor kamen viele seiner Schüler aus höchsten Kreisen des Militärs und der Regierung und daher legte sich die Aufregung um den angeblichen Vaterlandsverräter schnell. Sein Ansehen hatte kaum Schaden genommen und im Jahr 1938 bat man ihn sogar, Spezialeinheiten des Militärs für die bevorstehende Invasion in China auszubilden. Doch obwohl Ueshiba von nun an mit den Behörden keinerlei Schwierigkeiten mehr hatte, brach für den Kobukan eine unruhige Zeit herauf. Der Krieg gegen China und der kurz bevorstehende Ausbruch des Zweiten Weltkriegs erzeugte im ganzen Land Spannungen, die sich auch auf Ueshiba übertrugen. Der Kampfkunstmeister, der sein ganzes Leben auf der Suche nach seelischer Stabilität war, hatte große Schwierigkeiten, mit der aufkommenden Welle der Unruhen in seiner Umgebung zurechtzukommen. Da ihm zudem der Alltag in der überbevölkerten und stark verwestlichten Hauptstadt immer weniger zusagte, entschloss er sich in Iwama, einem von Tōkyō zwei Stunden entferntem Dorf, etwas Land zu erwerben und dort eine kleine Farm zu errichten. In der darauffolgenden Zeit schränkte Ueshiba seinen Unterricht am Kobukan nach und nach ein und entfernte sich innerlich immer mehr von der Institution. Persönlich verfiel er in depressive Zustände und wurde für die Menschen um ihn herum noch ungenießbarer, als er es Zeit seines Lebens schon immer war. Nachdem viele seiner Schüler an der chinesischen Front gestorben waren und Ueshiba zu seinem großen Bedauern erkennen musste, dass durch seinen Unterricht an Spionage- und Kriegskademien die Kunst des Budo vom Militär missbraucht wurde, sah er sich nicht mehr in der Lage, weiterhin am Kobukan zu unterrichten: „Harmonie, Liebe und Höflichkeit sind die Tugenden des echten Budō, doch die heutigen Machthaber mißbrauchen es zur Zerstörung. Mir bleibt kein anderer Weg, als mich zurückzuziehen, um nicht auch von ihnen mißbraucht zu werden.“, waren die Worte des Meisters, ehe er im Jahr 1942 schließlich die Leitung des Kobukan an seinen Sohn Kisshomaru übertrug, seine Ämter niederlegte und mit dem Rest seiner Familie nach Iwama zog.

Umzug nach Iwama und Gründung des Aikidō

Ein weiterer und nicht unerheblicher Grund, warum Ueshiba 1942 halsüberkopf nach Iwama zog, ist mit auf die Tatsache zurückzuführen, dass die Kempai tai die restlichen Mitglieder der Ōmoto kyō erneut auf ihre Vergangenheit zu überprüfen begann und der Altmeister sicherlich bald ihre Aufmerksamkeit erregt hätte. Durch sein Untertauchen im weltvergessenen Iwama hoffte Ueshiba der voraussehbaren Verhaftung durch diese gefährlichen Mordschergen zu entgehen und sollte damit Recht behalten. Abgesehen von dieser Bedrohung hätte Ueshiba seinen Unterricht in Tōkyō sowieso spätestens mit der Niederlage Japans einstellen müssen, da die Alliierten alle Kampfkünste für eine längere Zeit verbieten sollten. Iwama war ein kleines Dorf, zwei Stunden von Tōkyō entfernt. Mit dem Umzug Ueshibas nach Iwama sollte für seine Kampfkunst eine neue Ära anbrechen. Mit Erstaunen stellten die Budōka am Kobukan fest, dass der Altmeister abseits von jedem weltlichen Geschehen dem aikijutsu gänzlich andere Inhalte gab. Nach Jahren der Betonung einer extrem kriegerischen und körperbetonten Kampfkunst verwandelte er Stück um Stück diese Prinzipien in ihr Gegenteil. Aus den bisher aggressiven und kampfbetonten Techniken entwickelte sich immer mehr eine Lehre mit defensivem Charkter, die den inneren Frieden über jede kämpferische Aktion stellte. Ueshiba selbst sagte einmal dazu: „Sobald du dich mit dem 'Guten' und 'Schlechten' deiner Mitmenschen beschäftigst, öffnest du in deinem Herzen eine Schwachstelle, durch die Böswilligkeit eintreten kann. Andere zu testen, sich mit ihnen zu messen und sie zu kritisieren, schwächt dich, und bringt dich zu Fall. Dein Geist sollte mit dem Ablauf des Universums im Einklang stehen; dein Körper sollte mit den Bewegungen des Universums harmonieren; Körper und Geist sollten eins sein, vereint mit dem Wirken des Universums.“

In Iwama trainierte und meditierte der Aikidō-Meister zunächst alleine und entwickelte das, was später als aikidō in der ganzen Welt bekannt werden sollte. Bald darauf ließ er in Iwama ein Tempel-Dōjō (Aiki jinja) errichten, dass er seiner neuen Kampfkunstauffassung und den kotodama widmete. Im Jahr 1942 reiste er schließlich zum letzten Mal in die Mandschurei, um zum Anlass des zehnjährigen Bestehens des mandschurischen shorinji Kempō, seine neue Kampfkunst vor dem japanischen Marionetten-Kaiser Pǔ Yí (1906 - 1967) zu demonstrieren. Als offenkundiges Zeichen für den neuen Weg, den er eingeschlagen hatte, veränderte er schließlich die Bezeichnung seines weiterentwickelten Stils. Von nun an lehrte und verbreitete Ueshiba seine Kampfkunst unter dem Namen aikidō (合気道 - „Weg des Friedens“). Durch die offizielle Veränderung der Bezeichnung von aikijutsu zu aikidō trennte er sich endgültig vom daito ryū seines Lehrers Takeda Sogaku, und noch im gleichen Jahr wurde die neue Bezeichnung seines Stils von seinem Schüler Hirai Minoru im Butokukai registriert.

Auf den ersten Blick scheint sich dieser Wandel in Ueshibas Kampfkunstauffassung ohne große Vorankündigung vollzogen zu haben. Bei genauerer Betrachtung wird jedoch eine Entwicklung in seinem Leben offenbar, die sehr wahrscheinlich der Auslöser für die spätere Veränderungen war. Wie jeder andere Mensch auch, musste Ueshiba an einem bestimmten Punkt seines Leben feststellen, dass seine Erfahrung und Reife zwar zugenommen, aber seine körperliche Kraft und Beweglichkeit nachgelassen hatte - Ueshiba wurde alt. Nachdem er sich Zeit seines Lebens der Perfektionierung einer Kampfkunst gewidmet hatte, deren sagenumwobene Wirkung fast ausschließlich auf seiner ungeheuren physischen Stärke beruhte, war er nun gezwungen, einen Weg zu finden, auf dem er seine Kampfkunst durch die Reife seines Geistes vertreten konnte. So veränderte sich der samuraibezogene Inhalt seiner Kampfkunst, der lange Jahre im Wahn der Unbesiegbarkeit bestand, in eine Lehre mit esoterisch-philosophischen Prinzipien, hauptsächlich beruhend auf denen der Ōmoto kyō.

Verbreitung des Aikidō

Nach Ende des Zweiten Weltkriegs und Japans Kapitulation im August 1945 stand Meister Ueshiba kurz vor einem neuen Anfang in der Geschichte seiner Kampfkunst. Zum einen hatte er während der Zeit, die er in Iwama verbrachte, seine Kampfkunstkonzepte mit der Gründung des aikidō endgültig auf einen neuen Weg gebracht und zum anderen stand der Kobukan in Tōkyō vor großen Schwierigkeiten. Kisshomaru, Ueshibas Sohn, gelang es zwar das dōjō durch die Kriegswirren hindurch einigermaßen unbeschädigt zu erhalten, doch viele der ehemaligen Kobukan-Schüler waren in den Kämpfen ums Leben gekommen. Außerdem vertrat der Altmeister inzwischen ein anderes Kampfkunstkonzept und konnte auf die Lehren des Kobukan nur noch geringfügig Einfluss nehmen.

Obwohl Tōkyō zerstört war, war der Kobukan nur wenig beschädigt, doch die Nachkriegszeit brachte ein Verbot aller japanischen Kampfkünste. Die Siegermächte untersagten ihre Ausübung (außer karate), da sich die meisten dem Butokukai angeschlossenen Budō-Lehrer in nationalistischen Kreisen bewegten und subversive Aktivitäten gegen die Alliierten unterstützten. Doch es dauerte nicht lange, bis sich das kriegsbedingte Chaos gelegt hatte und bereits am 9. Februar 1948 gelang es Kisshomaru mit Hilfe einiger Schüler und verbliebenen Sponsoren, einen erstmals fiktiven Aikidō-Verband zu iniziiere, der ab 1950 als aikikai die weltweite Verbreitung jener Kampfkunst betrieb, die Ueshiba Morihei in Iwama gegründet hatte. 1950 begann unter der Schirmherrschaft des aikikai der reguläre Unterricht des aikidō im Kobukan von Tōkyō unter der Leitung der dort ansässigen Lehrer.

Ueshiba aber entwickelte in Iwama seine eigene Vorstellung des aiki weiter und nahm Tohei Koichi, Abe Tadashi und Saito Morihiro als persönliche Schüler an. Die in Iwama neu entstandene Kampfkunst sollte dem Frieden zwischen den Menschen gewidmet sein. Nachdem 1950 das Verbot über die Übung der Budō-Künste wieder aufgehoben worden war, begann der Aikidō-Meister mit dem Unterricht seiner „neuen“ Kampfkunst. Die Prinzipien eines friedvollen Weges, der die geistige Entwicklung und das Wohlergehen von Seele und Körper förderte, übertrugen sich auch auf den Kobukan und bestimmten dort die Neuordnung der Kampfkunstauffassung des aikikai. Die Veränderung des aikijutsu zum aikidō bewirkte jedoch auch eine tiefe Kluft zu den meisten Schülern der älteren Generation, die Ueshibas esoterisches Konzept aus Iwama ablehnten und ihm den Verlust an Wirksamkeit vorherprophezeiten. 1954, als Ueshiba mit seinem aikidō an die Öffentlichkeit zu treten begann, verließ Shioda Gozo, der besten Schüler Ueshibas, seinen Lehrer. Nach einer jahrelangen Ausbildung in den Prinzipien des Aikijutsu konnte Shioda an der neuartigen Kampfkunstauffassung des Aikidō-Meisters nichts beeindrucken, und da ihm an der Selbstverteidigungsfähigkeit des Systems viel lag, entschloss er sich eigene Wege zu gehen. Das neue Konzept seines Lehrers erschien ihm für Schüler ohne die Lebenserfahrung Ueshibas nicht nachvollziehbar und er sagte dem Kobukan-Stil eine totale Kampfunfähigkeit voraus. Die Trennung von Ueshiba fiel ihm angesichts dieses Hintergrunds nicht sehr schwer, und er eröffnete bereits im selben Jahr nach seinem Abgang mit Hilfe einiger Geschäftsleute ein eigenes dōjō, den Yoshinkan. Dort lehrte er eine Form des aikijutsu, die auf den alten Prinzipien des daitō ryū basiert und die er yoshin ryū nannte. Bei einer Demonstration im Juli 1954, an der alle japanischen Kampfkunststile vorgestellt wurden, erhielt der Yoshinkan bereits die Auszeichnung als beste Kampfkunst, was den Beginn der weltweiten Verbreitung und Wertschätzung des yoshin ryū einleitete. Shiodas Worte zu seiner Trennung von Ueshiba: „Kurze Zeit bevor ich meinen Meister verlassen habe, teilte uns dieser seine Absicht mit, uns einem metaphysischen Experiment zu unterziehen. Er hielt den Schülern meiner Generation vor, eigene Kampfkunstauffassungen zu entwickeln, die sich von der neuen Aikido-Lehre, wie er sie von den jüngeren Schülern des Aikikai vertreten ließ, entfernen. Persönlich glaube ich nicht, daß wir uns vom Aikido entfernt hatten, denn zu jener Zeit gab es nichts, wovon man sich hätte entfernen können. Der Meister erklärte damals Aikido durch seine tiefe religiöse Sicht, während nach mir das Aikido in der Lage ist, sich selbst zu erklären... Mein Aikido ist rein und identisch mit jenem, das der O-Sensei ursprünglich lehrte“.

Der Vorfall mit Shioda war jedoch nicht der einzige Verlust den Ueshiba als Folge seiner Veränderungen erleiden sollte. Viele der älteren Schüler verließen ihn und selbst zwischen den Schüler der neuen Generation entstanden später tiefe Zerwürfnisse wegen der Kampfkunstauffassung des Aikikai. Zeit seines Lebens hatte er viele Schüler, doch keiner begleitete ihn durch alle Abschnitte seines Lebens. Die besten unter ihnen, die es trotz seiner unausstehlichen Art einige Jahre mit ihm aushielten, vertreten heute die Kampfkunstauffassung seiner verschiedenen Lebensabschnitte. Der beste Schüler, der nach Shiodas Weggang das aikidō repräsentieren konnte, soll ein Sumō-Ringer namens Ueshiba Tenryu gewesen sein. Manche behaupten auch, dass nie Shioda Gozo, sondern immer Tsutomo Yukawa nach Ueshiba Morihei der stärkste Kämpfer am Kobukan gewesen sein soll - trotz der Tatsache, dass dieser bei einer Rangelei von seinem Gegner erstochen wurde.

Im Jahr 1955 sollte der Aikidō-Meister mit seiner neuen Kunst zum ersten Mal an die Öffentlichkeit treten. Der ungewöhnliche Ort (das Dach eines Tōkyōer Kaufhauses) der Vorführung und die beeindruckende Demonstration seiner kämpferischen Stärke sorgten dafür, dass dieses Ereignis das größte Aufsehen in der Geschichte des aikidō verursachte und die Kampfkunst für kurze Zeit in den Mittelpunkt des öffentlichen Interesses rückte. In den folgenden Jahren wurden in ganz Japan viele Aikidō-Clubs gegründet, die als Zweig-Dōjō des Kobukan entstanden, und zwischen denen Ueshiba während seiner letzten Lebensjahre oft in Begleitung einer seiner Schüler hin- und herreiste, um dort zu unterrichten. Eine dieser Reisen und gleichzeitig auch die letzte große Fahrt unternahm Meister Ueshiba 1961 nach Hawaii, wohin er eingeladen worden war, um das neue Honolulu Aikikai-Dōjō einzuweihen und selbstverständlich auch eine Demonstration seines Könnens zu geben. Während seines 40tägigen Aufenthalts in Honolulu äußerte er die historischen Worte: „Bis heute habe ich in Japan goldene Brücken gebaut. Ich bin nach Hawaii gekommen, um hier eine silberne Brücke zu bauen, die alle Länder der Erde im tiefen Geist des budō vereinen soll. Dieser besteht aus einer immerwährenden Harmonie und Liebe zwischen den Völkern“. Aus dieser Zeit stammen auch mehrere Dokumentarfilme über aikidō (z.B. „Rendenzvous mit einem Abenteuer“), die heute von hohem geschichtlichen Wert sind.

Erst wenige Jahre vor seinem Tod, gelang es Ueshiba etwas Ruhe und Gleichgewicht in sein Leben zu bringen. Nach langer Zeit des inneren Unfriedens, der Belastungen der Kriegs- und Vorkriegszeit und der Auseinandersetzungen mit den japanischen Behörden, war der Aikidō-Meister endlich in der Lage, seine Aufmerksamkeit ohne Ausnahme auf die Meditation und das Studium des Aiki zu richten. Kurz vor dem Ende seines Lebens nahm er immer mehr die Form einer mystischen Erscheinung an. Er war immer in weiße Roben gekleidet, hatte lange weiße Haare und einen fließenden weißen Bart. Als er schließlich nach langer und schwerer Krankheit am 26. April 1969 im Alter von 86 Jahren an Leberkrebs starb, sollen seine letzten Worte an seine Schüler eine Warnung vor dem Missbrauch seiner Lehren gewesen sein, den er selbst während seines Lebens so oft betrieb (der Meister sprach in seinen späteren Jahren immer wieder sein Bedauern und Entsetzen darüber aus, daß er durch den Unterricht an Militärakademien indirekt einen Teil zu dem Blutvergießen im Zweiten Weltkrieg beigetragen hatte): „Aikido gehört der ganzen Welt und wurde nicht zu eigennützigen und zerstörerischen Zwecken entwickelt. Trainiert unaufhörlich zum Besten aller.“

Ueshiba mit Boken (Zeichnung M. Lind)

Ueshibas Lehre

„Ihr solltet Aikido zuerst als Budo-Kunst verstehen und dann als einen Weg, der dem Aufbau der Weltfamilie dient. Aikido ist nicht nur für ein einziges Land gedacht. Sein Zweck ist es, das Werk der Schöpfung zu vollbringen. Wahres Budo ist liebevolles Beschützen aller Wesen im Geist der Versöhnung. Wahres Budo bedeutet, Leben zu beschützen, und ist die Quelle alles Schöpferischen. Wer danach strebt, Aikido zu erlernen, sollte sein Herz öffnen und nach der Erkenntnis des göttlichen Wesens handeln. Ihr sollt die große Befreiung durch Aiki begreifen und mit der Kultivierung des Geistes beginnen. Mein Wunsch ist es, alle denkenden und fühlenden Menschen die Stimme des Aikido hören zu lassen, so daß sie ihr eigenes Denken und Fühlen berichtigen können. Das ist Aikido. Das ist seine Aufgabe und sollte auch eure sein.“

Obwohl Meister Ueshiba sich bis zu seinem Tod dem Studium und der Weiterentwicklung des aikidō widmete, erhielt seine Kampfkunst erst in den letzten beiden Jahrzehnten seines Lebens den Charakter, den sie heute trägt – eine Kunst des Friedens zwischen den Menschen zu sein: „Aikido ist Medizin für eine kranke Welt. Bosheit und Chaos existieren in der Welt, weil die Menschen vergessen haben, das alle Dinge aus einer Quelle stammen. Kehre zu dieser Quelle zurück und lasse ichbezogene Gedanken, unbedeutende Begierden und Ärger zurück.“

Das Leben des Kampfkunstmeisters war stets von einer inneren Unruhe geprägt, die ihn veranlasste nach etwas zu suchen, das ihm als Ideal dienen und seinem Dasein einen Inhalt geben konnte. Zufälligerweise bot der religiöse Boom, in dem sich Japan zu dieser Zeit befand, Ueshiba und vielen anderen Menschen eine Unzahl an neuen Glaubensgemeinschaften und esoterischen Praktiken, die „neue“ Perspektiven eröffneten und ein besseres Leben voller Ideale versprachen. Die frühen Kontakte zur Esoterik der Shingon-Sekte, das Studium der Kotodama und die enge Bindung an die Ōmoto kyō halfen Ueshiba schließlich, seinen Lebensweg zu finden und prägten seine weitere Entwicklung. In der Übung der Kampfkünste, mit der er auf Druck seines Vaters schon in jungen Jahren begann, bot sich Ueshiba dabei gleichzeitig die Möglichkeit, seinen schwächlichen Körper zu Stärke zu erziehen und Beständigkeit in seinen unruhigen Alltag zu bringen.

Im Laufe der Jahre wurden die Kampfkünste und speziell das aikijutsu der wichtigste Faktor in seinem Leben, und mit einem an Fanatismus grenzenden Eifer versuchte der Aikidō-Meister zum stärksten Kämpfer aller Zeiten zu werden. Gegen Ende des Zweiten Weltkrieges im Alter von 59 Jahren mußte der Meister jedoch erkennen, daß die Kampfkunstauffassung, wie er sie zeit seines Lebens vertrat, plötzlich nicht mehr mit seinem zunehmenden Alter und dessen Begleiterscheinungen zu vereinbaren war. Nach der jahrelangen Übung einer stark kriegerischen Kampfkunst entwickelte er daher innerhalb weniger Jahre das aikidō wie wir es heute kennen, und obwohl es damals unter seinen älteren Schülern zum großen Teil auf Ablehnung stieß, da es erheblich an Kampfkraft eingebüßt hatte, waren die neuen Lehren vom philosophischen Standpunkt um einiges wertvoller. Die größte Schwierigkeit, die sich dem Aikidō-Meister nun stellte, nachdem er beschlossen hatte, seine Kampfkunst zu ändern, war die Frage, wie er beides, Kampfkunst und Ideal, perfekt miteinander vereinen konnte. Sowohl das daito ryū als auch andere japanische Kampfkünste, die Ueshiba kennengelernt hatte, betonten in seinen Augen den kriegerischen Aspekt des bushidō viel zu sehr und vernachlässigten die Entwicklung von Energie (kime) durch die innere Übung der Harmonie und Anpassung (einige behaupten sogar, dass Ueshiba, nachdem er 1925 Satori erreicht haben soll, den Begriff „Kampf“ ganz aus seinem Denken und Handeln gestrichen hätte, was jedoch in beiden Punkten sehr umstritten ist). Angesichts dieses Mankos begann Ueshiba in jahrelangem Studium und mit Hilfe tiefgehender philosophischer Überlegungen, die Prinzipien des daito ryū Schritt für Schritt nach seinen Vorstellungen zu verändern. Die Basis seiner neuen Kampfkunst, die Ueshiba schließlich aikidō taufte, bildete das Prinzip des aiki, „Die Suche nach dem ki“, das die Kontrolle der inneren Energie (ki) durch die Verwirklichung der phyischen und psychischen Gleichgewichtsmitte anstrebte. Erst wenn der Mensch in Frieden und Harmonie mit der Natur und in der Erkenntnis der rechten Haltung lebte, war er in der Lage, sein ki in der Technik nach außen zu lenken, die Bewegungen seines Gegners vorherzusehen und einen Zustand beständig wachsamer Intuition zu erlangen. Und nur ein Geist, der frei war von materiellem Streben, Hochmut, Egoismus und Unachtsamkeit in seiner Haltung gegenüber der Natur und allen Lebewesen, konnte einen möglichen Angriff erkennen, ihm angemessen begegnen oder ihn gelassen erwarten und damit jede Situation beherrschen. Um diesen Geist und diese Harmonie zu erreichen, musste der Mensch sich in einem gesunden Gleichgewicht zwischen Streben und Bewahren, zwischen Abhängigkeit von der Natur und Selbständigkeit durch das Bewusstsein bewegen.

Mit diesen Prinzipien hatte Ueshiba das aikidō zu einer Schule der Selbstperfektion gemacht, zu einer Kunst, die er selbst als „Weg der Liebe zwischen den Menschen“ bezeichnete und die in seiner Vorstellung alles im Menschen ausmerzte, was nicht der rechten Haltung entsprach und somit gegen die Inhalte des aiki verstieß. Der Aikidō-Meister wollte mit seiner Kunst die gegenseitige Achtung zwischen allen Menschen ermöglichen und damit den angestrebten „Weltfrieden“ aus den Lehren der Ōmoto kyō verwirklichen und einen höheren Daseinszustand bewirken. Auf die Frage, was aus seiner Verbindung zur Ōmoto kyō geworden ist, antwortete er: „Ich glaube, sie erkennen mich heute nicht mehr als ihresgleichen an. Die Religion Omoto ist die Wurzel der Demokratie. Ich habe keinen größeren kennengelernt als Deguchi Sensei. Von ihm habe ich Kotodama gelernt. Nur aus der Ruhe kommt die Kraft... Aiki lehrt den rechten Weg des Siegens. Dieser besteht darin, daß du dein eigenes Schwert besiegst. Dies nennt man Katsu hayabi und diese Kraft ist stärker als die Sonne, der Mond und die Erde.“ Diese Idee übertrug er schließlich auf die Technik seiner Kampfkunst, indem er die kämpferischen Aspekte und das Bewusstsein des Siegen-Wollens durch ein anderes Technik-Konzept ersetzte, das es dem Übenden ermöglichte, ein Leben in beständiger Harmonie mit sich und seiner Umgebung zu lernen und dem Gegner im Fall eines Angriffs durch geschicktes Ausweichen und Ableiten seiner Techniken zeigte, wie schädlich dieses Vorhaben für ihn selbst ist: „Weder die Auseinandersetzung mit der Technik noch das Gewinnen oder Verlieren sind wahres Budo. Wahres Budo kennt kein Besiegen. Niemals besiegt werden bedeutet niemals kämpfen. Siegen bedeutet, die Uneinigkeit des eigenen Geistes zu überwinden. Es bedeutet, die Aufgabe zu erfüllen, der du dich hingegeben hast. Das ist nicht bloße Theorie; handle danach, dann wirst du die gewaltige Kraft spüren, eins zu sein mit der Natur.“

Tsuda Itsuo (1914 - 1984), der Gründer des Stils katsujin undo, berichtet: „Ich traf den Meister erst in den letzten Jahren seines Lebens. Was mir am meisten auffiel war, daß er die Technik verlassen hatte - seine Bewegungen waren auf ein Minimum reduziert, natürlich und selbstverständlich. Er benutzte im Kampf immer nur einen Finger und in seiner ausgezeichneten psychischen Verfassung, verteidigte er sich mit Leichtigkeit gegen jeden Angriff. Man konnte ihn mit einem Kind vergleichen, daß mit einem Spielzeug spielt. Plötzlich streckte er zwei Finger seiner linken Hand in meine Richtung. Ich griff ihn sofort mit aller Kraft an und war verblüfft, das ich noch nicht einmal einen psychischen Widerstand spürte. Er paßte sich perfekt an und wirbelte mich auf die Matte. Ich hatte bei keinem anderen Meister der Kampfkünste je ein größeres Gefühl der Hilflosigkeit. Als ich mich erhob sah ich, daß der Meister von zwölf bewaffneten Gegnern umringt war. Dann hörte ich einen durchdringenden Kiai und seine Gegner flogen durch die Luft... Plötzlich hielt O Sensei ein Boken in seiner Hand. Die Spitze zeigte leicht nach oben, seine linke Hand griff ellegant nach dem Saum seines Hakama. Drei seiner Schüler griffen nach dem Bôken und versuchten es ihm zu entreißen. Das Schwert bewegte sich nicht aus seiner Position. Nach einer Weile entlud der Meister seine Energie und die Angreifer flogen durch die Luft“.

An erster Stelle in der Übung der Technik stand für Ueshiba nicht die Anwendung in einer Selbstverteidigungssituation, sondern die Entwicklung eines perfekten körperlichen und seelischen Gleichgewichts. Jede Technik war in der Verbindung mit der richtigen Atmung und einer natürlichen Haltung und Spannung ein Mittel, um innere Blockaden zu lösen und es dem Übenden zu ermöglichen, in sich selbst zu ruhen und in Harmonie mit seiner Umgebung zu leben. Wer dieses Prinzip verstanden hatte, konnte es auch ohne Schwierigkeiten auf eine mögliche Verteidigungssituation übertragen, indem er mit dem Gegner eine harmonische Einheit bildete und dessen Angriff entweder vorhersah, oder dessen Kraft gebrauchte, um ihn zu immobilisieren.

Ueshibas Worte dazu: „Aikido ist das Verständnis der Methode, alle Wesen und Dinge zu ihrer reinsten Essenz zu bringen. Aikido ist das Prinzip des Nicht-Widerstandes. Meine Kinder lachen über mich und sagen ich bin veraltert. Ich hingegen glaube, daß ich sehr modern bin, weil ich das Universum in mir trage. Ich bin Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft der Kami. Die Kami leben nur in heiligen Menschen und verleihen ihnen eine große Kraft. Als ich jung war, wollte ich der Welt mit meinem Geist helfen... heute bin ich bereit, mich ihr zu opfern... Deguchi Sensei sagte, ich hätte eine heilige Gabe. Die Menschen nannten mich damals Rikizo (imaginäre Kraft).“

Nach Ueshibas Tod erfuhr seine Lehre nochmals eine starke Veränderung. Im Zuge der weltweiten Verbreitung erhielt vor allem die philosophische Basis des aikidō immer wieder neue Einflüsse. Keiner von Ueshibas Nachfolgern war auch nur annähernd in der Lage, die geistige Tiefe und zugleich kämpferische Stärke zu entwickeln, wie Ueshiba sie zu seinen Lebzeiten vertrat und so gingen viele seiner Prinzipien verloren. Tohei Koichi über die Lehren des Aikikai: „Ich bin geschockt über die Entwicklungen der letzten Zeit. Der größte Teil der Aikikai-Lehrer hat die Lehre über das Ki vergessen. Als der O Sensei noch lehrte, sprach er ununterbrochen über Ki, und alle Übenden versuchten seiner Lehre zu folgen. Doch nach seinem Tod waren die Aikikai-Meister nicht in der Lage, das Ki-Konzept zu verstehen und zu halten, und so strichen sie selbst den Begriff Ki aus ihrem Bewußtsein und verwendeten ihn nicht mehr. Dadurch wurden alle Techniken falsch gelehrt, und wenn heutige Aikido-Übende einem anderen Gegner gegenüberstehen, können sie ihn nicht besiegen. Wenn sich diese Dinge nicht bald ändern, wird Meister Ueshibas Lehre zu einer simplen äußeren Form verkommen.“

Als der Meister gefragt wurde, ob seine Kampfkunst von Nachahmern gelernt werden könnte, sagte er: „Nein, das können sie nicht! Sie konzentrieren sich auf das Kämpfen, ich konzentriere mich auf mich selbst und auf Aiki. Eine Sekunde, bevor der Angreifer seinen Schlag ausführt, sehe ich einen hellen Punkt, der seine Absicht verrät. Sein Schwert folgt der Linie, die der Punkt mir vorher zeigt. So kann ich leicht abwehren. Wer das Geheimnis des Aikido in sich selbst entdeckt hat, kann sagen: `Ich bin das Universum´. Wer mich angreift, muß das ganze Universum angreifen. Wenn er glaubt er kann siegen, ist er bereits besiegt. Siegen im Aikido heißt, den Zustand des Ungleichgewichtes zu besiegen. Die Bewegungen des Aikido sind die Bewegungen des Universums: sie bewirken alles ohne Widerstand. Die Natur des Aikido ist es, die wahre Liebe Gottes zu verwirklichen. Diese Aussagen entstammen den 3 wichtigsten Gesetzen der Omoto kyo: 1. beobachte das wahre Wirken der Natur, dann wirst du das wahre Wesen Gottes verstehen. 2. beobachte das perfekte Funktionieren des Universums, dann wirst du die wahre Energie Gottes verstehen und 3. beobachte den Geist der lebenden Wesen, dann wirst du den wahren Geist Gottes verstehen. Ebenso wichtig sind die Schriften des Meisters Petre Deunov, die von Meister Omraam Mikhael Aivanhov kommentiert werden: `Ihr solltet euch nicht einbilden, den Strom der Liebe und des Lichtes ohne eine innere Verwandlung mit Leichtigkeit ertragen zu können. Im Gegenteil... Jede einzelne Zelle muß sich verändern. Erst dann kann man ohne Angst neue Philosophien oder geistige Strömungen aufnehmen. Doch das Wichtigste ist, daß man seine eigene Energie auf die rechte Weise nutzt. Wenn man eine Ungerechtigkeit feststellt, muß man ihr mit einer solchen Intelligenz, einer solchen Charakterstärke, einer solchen Weisheit, einem solchen Licht und einer solchen Wärme begegnen, daß der Gegner verwirrt und verblendet ist - mit anderen Worten, er muß sich verwandeln - ohne Zerstörung, ohne Agression.“

Ueshiba erläuterte sein Konzept wie folgt: „Die Techniken basieren auf vier Eigenschaften, die die Natur unserer Welt wiedergeben. Abhängig von dieser Tatsache sollen die Bewegungen hart wie Diamant, biegsam wie eine Weide, ruhig fließend wie Wasser und leer wie das Universum sein.“ Doch dieses Konzept beruht auf der Summe von Ueshibas Lebenserfahrungen. Der Grund, warum das heutige Aikido so viel von Ueshibas Wirkungsweise eingebüßt hat ist, daß es in seinen verschiedenen Erscheinungsformen nur Lebensabschnitte des Meisters vertritt. Ueshibas Aikido - eine Kombination zwischen mystischem Glauben und Effizienz - ist nicht durch das Nachahmen seiner Techniken zu verstehen.

Mochizuki Minoru und Koichi Tohei (beide Zeichnungen von M. Lind, BSK).

Die wichtigsten Aikijutsu- und Aikidō-Richtungen heute

  • Daitō ryū Aikijutsu ist das traditionelle Ursprungssystem, das auch heute noch in seiner originalen Form in mehreren Organisationen geübt wird. Wichtige Vertreter dieser Richtung sind Takeda Tokimune, Horikawa Kotaro, Agawa Yukiyoshi, Hiza Takuma, Matsuda Hosaku, Yamamoto Tomekichi, Turuyama Akiraku, Richard Kim u.a. Matsuda Hosaku war der Lehrer von zwei wichtigen Schülern: Okuyama Yoshiji (Gründer des Hakko ryu Jujutsu) und Oba Sachiyuki.
  • Aikikai ist die „Vereinigung des Aiki“, entstanden aus dem Kobukan, die aber die späte (Iwama) Aikidō-Auffassung Ueshibas vertritt und der heute seine Nachkommen Ueshiba Kisshomaru und Ueshiba Moriteru vorstehen.
  • Tomiki-Aikidō wurde von Tomiki Kenji entwickelt, der 1930 aikidō unter Ueshiba studierte und auch den 5. dan im jūdō besaß. Er gründete seine Kampfkunst an der Waseda-Universität, und vereinigte in ihr Wettkämpfe, Selbstverteidigung und Körpererziehung.
  • Yoseikan-Aikidō wurde von Mochizuki Minoru, in seiner Schule (Yoseikan) als eigene Auffassung gegründet.
  • Korindo ist das Aikidō-System von Hirai Minoru, in dem vor allem die Selbstverteidigung betont wird.
  • Kobujutsu-Aikidō ist von Hoshi Tetsuomi als Selbstverteidigung entwickelt worden.
  • Otsuki ryū Aikidō von Otsuki Yutaka ist ein Selbstverteidigungssystem.
  • Shinwa taido von Inoue Yoichiro sucht eine Verbindung zwischen Selbstverteidigung und Sport.
  • Shin ryaku heiho wurde von Tanaka Setaro entwickelt und ist ein System der Selbstverteidigung.
  • Shindo Rokugo ryū von Noguchi Senryuken lehrt ebenfalls die Selbstverteidigung.
  • Yoshin ryū ist ein sehr verbreitetes System und wurde von Shioda Gozo entwickelt. Das System ist selbstverteidigungsbetont und nahe dem klassischen Aikijutsu.
  • Takemusu Aiki Iwama ryū von Saito Morihiro, lehnt an die späte Auffassung Ueshibas an.
  • Ki no michi von Noro Masamichi, bezeichnet den „Weg des Ki“.
  • Matsuda ryū Aikidō von Matsuda Hosaku.
  • Shinshin toitsu (Kinotoitsukai) von Tohei Koichi ist ein System über die Lehre des ki.

Studien Informationen

Siehe auch: Aikidō | Daitō-ryū Aikijūjutsu |

Literatur

  • Werner Lind: Ostasiatische Kampfkünste - Das Lexikon. Sportverlag Berlin 1997.
  • Saito Morihiro: Traditional Aikido. Japan Publikations.
  • Julia Karzau: Drei Meister des Budo. Sportverlag Berlin 1998.
  • Obata Toshishiro: Samurai Aikijutsu. Dragon Books.
  • Ueshiba Morihei: Budo. Kodansha.
  • John Stevens: Three Budo Masters. Kodansha International.
  • John Stevens: Unendlicher Friede. Kristkeitz.
  • Kisshomaru Ueshiba: Aikido Kaiso Ueshiba Morihei Den. Kodansha 1977.
  • Kisshomaru Ueshiba: Aikido Kaiso. Kodansha 1983.

Weblinks