Wàijiā

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Artikel aus: Lexikon der Kampfkünste, Karate Kumite<br.>Nachbearbeitet von: Stephanie Kaiser

Die Systeme der wàijiā (chin.: 外家) bezeichnen direkte Ableitungen aus dem shǎolínquán, die ab 1673 von vertriebenen Shǎolín-Mönchen in den Zweigstellen des Shǎolín-Klosters unterrichtet wurden. Dort entwickelten sie extrem kämpferische Stile und gründeten geheime Bruderschaften (huìdǎng), die gegen die Herrschaft der Mandschu konspirierten. In der Folgezeit verlagerten sich die Kampfkonzepte aus den Klöstern zunehmend mehr in Privatschulen (guān). Dort entstanden Strömungen und Stile des shǎolín quánfǎ, die vor allem eine schnell erreichbare Kampffähigkeit beabsichtigten. Den guān standen meist gut ausgebildete Lehrer (shīfu) vor, die den Widerstand gegen die Mandschu organisierten. Vor allem auf der Fähigkeit zum Kämpfen begründen sich die „äußeren Schulen“ (wàijiā). Im Rahmen der wàijiā entstanden im Süden die Stile des nánquán („Faust des Südens“) und im Norden die Systeme des běitǔi („Bein des Nordens“). Die Begriffe unterscheiden lediglich die geografische Lage nördlich und südlich des chángjiāng (langer Fluss, auch yángzǐjiāng / jang-tsekiang) und begründen ihre Verfahren auf den Gegebenheiten des Landes.

Die Entstehung der Schulen

Die heutigen „äußeren (harten) Systeme“ (wàijiā) stehen repräsentativ für das im shǎolín ursprünglich entwickelte Konzept. Durch die Zerstörung des Klosters im 16. Jahrhundert verließen viele Kampfkunstexperten das Kloster und siedelten sich in verschiedenen Teilen des Landes an. Sie unterrichteten das shǎolín quánfǎ in privaten Schulen (guān) und gründeten viele neuen Stile. Während der Ming Dynastie verbreitete sich das shǎolín quánfǎ im ganzen Land, und überall entstanden hervorragende Schulen, welche die 170 Tierverfahren (Wuxingxi) verbesserten und erweiterten. Anfangs lebten sie in friedlicher Koexistenz zusammen, doch bald entbrannte ein heißer Konkurrenzkampf zwischen den weltlichen Schulen und dem Shaolin Kloster, der das Prestige des Klosters stark schädigte. Viele Mönche verließen daraufhin das Kloster und eröffneten Privatschulen. Manche von ihnen gingen nach Japan, wie der berühmte Chen Juan Bing, der im Jahre 1558 im Shokokuji-Tempel von Edo eine Jūjutsu-Schule gründete, die auf dem shǎolín quánfǎ aufgebaut ist.

Nach ihrer Verbreitung außerhalb des Tempels teilte sich das shǎolín quánfǎ, analog zur Entwicklung des chán, in die „Nördlichen Schulen“ (běitǔi) und in die „Südlichen Schulen“ (nánquán). Bezeichnend für die Nördlichen Schulen (Bein des Nordens) sind höhere Stellungen, schnelle Stoß- und Schlagtechniken, hohe Fußtritte, Sprünge und flüssige Bewegungen. Die Südlichen Schulen (Faust des Südens) bevorzugen Fausttechniken und festere Stände. Doch die Unterteilung in Nord und Süd ist ebenso wie die Unterteilung in Innen und Außen sehr umstritten (Einleitung). Nanquan Beitui (Faust des Südens und Fuß des Nordens) ist ein Begriff, der die gesamten Stile des äußeren quánfǎ umfasst. Er bezieht sich auf die geografische Lage nördlich und südlich des Changjiang (Yang tse kiang) und begründet sich folgendermaßen: Der Süden ist das Land der Pfirsiche und der Reiskultur, wo die Menschen einen Teil ihres Lebens im Wasser verbringen. Die Haltungen sind statischer, das quánshù (anderer Begriff für quánfǎ) bevorzugt daher die oberen Gliedmaßen zum Abwehren und zum Angreifen. Bezeichnend dafür ist die südliche Cai-Schule, die viele Techniken mit den oberen Extremitäten ausführt und wenig Beinarbeit leistet. Der Norden dagegen ist das Land der großen Räume, die Nomaden und Jäger benutzten Pferde. Das quánfǎ verwendet lange „fliegende“ Techniken, akrobatische Tritte und zahlreiche Ausweichbewegungen.

Nánquán - Faust des Südens

Der chinesische Süden ist das Land der Pfirsiche und der Reiskultur. Die dort ansässigen Menschen verbrachten einen großen Teil ihres Lebens auf Booten oder im Wasser. Entsprechend der geographischen Gegebenheiten wurden in diesen Systemen überwiegend Handaktionen in der Nahdistanz verbunden mit festen Stellungen gelehrt. Die Fußtechniken wurden weniger betont.<br.>Den Ursprung der südlichen Systeme (nánquán 南拳) vermutet man in der Initiative von legendären Vorvätern, die man als „Fünf Alte“ bezeichnet. Sie konnten angeblich dem dem Angriff (1673) der Ming auf das Shǎolín-Kloster entkommen und gründeten in der Provinz Guǎngdōng einen Geheimbund (huìdǎng), der den Widerstand gegen die Mandschu durch die Ausbildung einer extremen Kampfkraft ihrer Mitglieder unterstüzte. Dadurch entstanden zunächst die fünf Hauptsysteme (guǎngdōng wǔdàmíngjiā) des außershǎolínischen quánfǎ:

  • Hóngjiā 洪家 (hunggar) - „Schule des Meisters Hóng“ (Hóng Xí Guān), südliche Schule (nánquán) des quánfǎ aus Guǎngdōng mit Ursprung im shǎolín quánfǎ. Der Stil entstand als revolutionäres Kampfsystem der huìdǎng, lehrt die fünf Shǎolín-Tierformen (wǔqínquán) und kombiniert sie mit den fünf Elementen (wūdà).
  • Liújiā 劉家 (laugar) - „Schule der Familie Liú“ äußerer südchinesischer Stil des quánfǎ, der den Nahkampf betont. Das System gehört zu den fünf großen außershǎolínischen Methoden und stammt von Liú Sān Yǎn (Liú mit den drei Augen, traditionell: 劉三眼; vereinfacht 刘三眼) aus der Provinz Guǎngdōng oder nach einer anderen These von Liú Qing Shan, aus der Qing-Dynastie (1644 - 1911). Heute wird der Stil in Guǎngdōng (Léizhōu, Gāozhōu) und in Guǎngxī (Qīnzhōu) geübt und entwickelte mehrere Unterformen.
  • Càijiā 蔡家 (choygar) - „Schule der Familie Cài“, südlicher Stil (nánquán) des quánfǎ der äußeren Schulen (wàijiā), einer der maßgeblichen Stile der außershǎolínischen Systeme des shǎolín quánfǎ.
  • Lǐjiā 李家 (leigar) - „Schule der Familie Lǐ“, südlicher Stil (nánquán) des quánfǎ, eines der fünf großen Systeme des shǎolín quánfǎ. Das System stammt aus der Provinz Guǎngdōng und wurde von Lǐ Yǒu Shān (李友山, kantonesisch Lei Yau Saan) gegründet, dessen Vorname auch als Xi Kai oder Ying Hui angegeben wird.
  • Mòjiā 莫家 (mokgar) - „Schule der Familie Mò“, südchinesischer Stil des quánfǎ, ein System von einem der „fünf Patriarchen“ des Shǎolín-Klosters. Es geht auf Mò Qīng Jiǎo (traditionell: 莫清矯; vereinfacht: 莫清矫) zurück und verbreitete sich in der Provinz Guǎngdōng. Der Stil ist bekannt für seine Handtechniken im Nahkampf und für seine starken Fußtechniken.

In den südlichen Provinzen Fújiàn und Guǎngdōng entstanden bereits seit dem 8. Jh. mehrere Ableger des Shǎolín-Klosters. Doch bald entbrannte ein gegenseitiger Konkurrenzkampf, der viele Kampfexperten veranlasste, die Kloster zu verlassen und Privatschulen (guān) zu gründen. Dort entwickelten sie eigene Konzepte, deren Kämpfer die Opposition der huìdǎng gegen die Mongolen unterstützten.<br.>Neben vielen weiteren Stilen wurden vor allem báihèquán („weiße Kranichfaust“), yǒngchūnquán (wingchun 詠春) und báiméiquán („weiße Augenbraue“) entwickelt. Manche chinesischen Meister gingen nach Japan, wie der bekannte Chén Yuán Bīn, der im Jahre 1638 im Tempel Shōkokuji (nahe Kyōto) eine Schule gründete, die aufbauend auf den Ring-, Hebel- und Greiftechniken des shǎolín quánfǎ das japanische jūjutsu entwickelte.

Běitǔi - Bein des Nordens

Das quánfǎ aus dem Norden Chinas (běitǔi 北腿) stammt hauptsächlich aus der Provinz Héběi, in der sich bereits seit dem 8. Jh. mehrere Kopien des Shǎolín-Klosters etablierten. Man vermutet, dass es auch über die Grenzen Chinas hinaus viele solcher Kloster gab. In Korea nannte man sie solin, in Vietnam - thieulam und auf Okinawa - shōrin. Bekannt wurde das Kloster am Ufer des Sees Honglong, das 1341 erbaut wurde.<br.>Bezeichnend für die nördlichen Schulen sind hohe Stellungen, schnelle Stoß- und Schlagtechniken, Fußtritte, Sprünge und flüssige Bewegungen. Das běitǔi verlässt sich traditionell auf eine flexible Fußarbeit und das Durchbrechen der gegnerischen Abwehr aus der langen Distanz. Die Beine rutschen, gleiten, drehen und verschieben sich in einem beständigen Fluss. Fast gegen jede Aktion des Gegners werden Fußtritte eingesetzt. In den nördlichen Systemen werden zuerst Bewegungen mit weicher Kraft gelehrt, dann geht man langsam zu harten Techniken über und endet in einer Mischung von hart und weich. Man sagt, dass die großzügigen Platzverhältnisse und das Kämpfen zu Pferd die Entwicklung der weiten Distanz förderten.<br.>Die bekanntesten Stile des Nordens (běitǔi), die zu den äußeren Methoden (wàijiā) gehören, sind chángquán (lange Faust), tánglángquán (Gottesanbeterin), luóhànquán (Arhatboxen), hóuquán (Affenstil) u. a.

Geistige Grundlagen

Das Ziel der Übungen im Shǎolín-Kloster war die Erleuchtung (satori). Auf dem Weg zu diesem Ziel spielte seit Bodhidharma das Körperprinzip (yìjīnjīng) eine wichtige Rolle. Die Erleuchtung geht von der körperlichen und geistigen Persönlichkeitsmitte (chin. qihai dāntián, jap. kikai tanden) aus, aus der heraus der Übende sich darum bemüht, über die elementar vitalen Kräfte () seines Organismus zu verfügen. Um dies zu erreichen, entwickelten die Mönche des Shǎolín eine Körperschule (qìgōng), durch die sie sich den Zugang zu der natürlichen Bewegungsautomatik erüben konnten. Dies konnte jedoch nur dann gelingen, wenn diese „natürlichen Anlagen“ von den störenden Einflüssen des objektiven Bewusstseins befreit wurden. Dem Erreichen dieses Zieles diente die stetige Wiederholung gleicher Bewegungsabläufe (dào), mit einer nach innen (auf den dantian) gerichteten aufmerksamen Konzentration. Dazu wurden die taolu (jap. kata) verwendet. Anfangs waren diese auch im Shǎolín nicht kampforientiert. Sie ergänzten die zen-buddhistische Meditationsschule und dienten dem Zweck, die Harmonie zwischen Körper und Geist zu vervollkommnen. Bald jedoch stellte sich heraus, dass dieses ebenfalls meditative Ziel die höchste Bewusstseinsstufe für den Kampf darstellte. So entstand das shǎolín quánfǎ (jap. kenpō), und die Mönche setzten es ein, um sich gegen ihre Feinde zu wehren.

Sowohl die daoistischen als auch die buddhistischen Systeme suchten Mittel und Wege, durch die sie sich den Zugang zu den vitalen Kräften des Lebens verschafften, die durch den bewusst eingesetzten Willen nicht abrufbar waren. Man wusste, dass diese vitalen Kräfte (qi, jap. ki) jenseits jener Grenze lagen, die durch rein physisches Training erreicht werden konnte. Die zur Erleuchtung beitragenden Körperübungen der zenorientierten Künste starteten aus der Vorstellung von einem körperlichen und geistigen Energiezentrum (hara), dem man durch suggestive Bekenntnis alle Handlungsteuerungen überträgt, die dem rationalen Bewusstsein nach und nach entzogen werden. Man entdeckte, dass der Mensch im Vertrauen in diese Mitte lernen konnte, erneut über seine elementar vitalen Kräfte zu verfügen, von denen man anhand von Tierbeobachtungen wusste, dass sie die rational gesteuerten Aktivitäten in vielen Hinsichten übersteigen. Zu diesem Zweck entwickelte man neben der Meditation eine gymnastische Körperschule, in der man durch Automation die Bewegungssteuerung dem energetischen Persönlichkeitszentrum übertrug, was man dann durch Wiederholungen gleicher Bewegungsabläufe immer mehr auszubauen versuchte. Man wusste, dass der Zugang zu diesen Kräften nicht zu schaffen war, indem man sich bewusst darum bemühte. Der Mensch kann im Gegensatz zum Tier diese natürliche Energiequelle nicht nutzen, weil ihm dazu seine eigene „Bewusstgewordenheit“ im Wege steht. Daher war es nötig, eine innere Haltung (shisei) zu erreichen, in der ein Ausgleich zwischen rationalem und intuitivem Erkennen der Wirklichkeit möglich wurde. Die Bemühung, die Handlungsweise des Dao zu verstehen und in der eigenen Haltung zu verwirklichen, führte letztendlich zu dem umfangreichen Komplex von Körperübungen, die im modernen budō durch das Dō gekennzeichnet sind. Die Fähigkeit, die natürliche Vitalenergie (Qi) zu benutzen, die jedes Tier besaß, war beim Menschen durch den Anspruch seines egozentrischen Ich auf Vorrangigkeit verbaut. Man musste sich also von den beständig falschen Schlüssen der fixierenden Ratio, von den störenden Einflüssen aus dem Ichgefühl und von den Vorurteilen des logischen Denkens befreien und einen Geist (Mushin - der absichtslose Geist) verwirklichen, der in der Lage war, Zusammenhänge intuitiv zu erspüren. In unzähligen Studien wurde dazu das Verhalten verschiedener Tiere (Wuqinxi) beobachtet. Man ahmte die Weise eines Tieres nach und versuchte zu verstehen, was das Tier dazu veranlaßte, das zu tun, was es tat, und wie es in den Handlungen seine energetische Energie verwendete. Deshalb sind die meisten heute existierenden Kampfkunst Kata abgeleitete Tierbewegungen. Auf diese Weise begannen sich die Konturen des Weges (dō) in den Übungsformen der Kampfkünsten abzuzeichnen. Man brauchte das Körperprinzip, um den Zugang zur Vitalenergie zu schaffen und die Perfektion der inneren Haltung, weil die Ich-Haltung diesen Weg verhinderte. Aus diesem Grund enthalten alle Wegübungen die Technik (waza), den Geist (shin) und die Energie (Ki) als wichtigste Schwerpunkte der Übung.

Studien Informationen

Siehe auch: Quánfǎ | Nánquán | Nèijiā

Literatur

  • Werner Lind: Lexikon der Kampfkünste. BSK-Studien 2010.
  • Werner Lind: Karate Kumite. BSK 2014.