Dō (Weg)

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25px-Disambig-dark.svg.png Dieser Begriff ist mehrdeutig. Weitere Bedeutungen sind unter Dō (Begriffsklärung) aufgeführt.

Artikel von: Werner Lind

Der Begriff oder michi, mit dem kanji 道 geschrieben, bedeutet wörtlich „Weg“ und bezeichnet ein Prinzip der asiatischen Weltanschauung (chin. Dào (Prinzip). Im Japanischen hat das kanji mehrere Bedeutungen, die unter dō (Begriffsklärung) erläutert werden.

Erläuterung des Begriffes

Schriftzeichen für Weg

Das Schriftzeichen dafür (道 - chin. dào) liest sich im Japanischen als michi und im Sino-Japanischen als und bedeutet in der Übersetzung „Weg“, „Pfad“, „Grundsatz“, „Lehre“, „Philosophie“, „Richtung“, „Prinzip“, „Methode“ etc. ist ein individueller Weg zur Erkenntnis, in dessen Zentrum eine Übung (geiko), zumeist die Übung einer Form steht, deren Ziel jedoch nicht das Erlernen irgendeiner Fertigkeit, sondern das Erweitern des im Menschen liegenden Potenzials ist, durch das er zu seiner Sinnbestimmung wachsen und sein Leben mit Bewusstsein und Erkenntnis erfüllen kann.<br.>In Asien ist das zentrale Prinzip jeder Übung. Es ist ein Weg, durch den die Essenz der Philosophien (tetsugaku) und der japanischen Religionslehren (shūkyō) im individuellen Verhalten sichtbar werden und das Denken und Handeln des Einzelnen bestimmt.

Grundbegriff des Weges

Dō bezeichnet ein Prinzip der asiatischen Weltanschauung und stammt als Begriff aus dem japanischen Zen-Buddhismus. Das Schriftzeichen dafür liest sich im Japanischen als michi und im Sinojapanischen als . Übersetzt bedeutet der Begriff Weg, Pfad, Grundsatz, Lehre, Philosophie, Richtung, Prinzip, Methode etc. Dō ist ein Weg, in dessen Zentrum eine Übung, zumeist die Übung einer Form steht, deren Ziel jedoch nicht das Erlernen irgendeiner Fertigkeit, sondern das Erweitern des im Menschen liegenden Potenzials ist, durch das er zu seiner Sinnbestimmung wachsen und sein Leben mit Bewusstsein und Erkenntnis erfüllen kann. In Asien ist das zentrale Prinzip jeder Übung. Dort ist es ein Weg, durch den die Essenz der Philosophien und Religionen im individuellen Verhalten sichtbar wird und weit über den Intellekt hinaus das Denken und Handeln des einzelnen bestimmt.

Als Prinzip ist nichts ausschließlich Japanisches, sondern ein allgemein menschliches Anliegen, denn dieselbe Tendenz, die in Asien schlicht als Weg bezeichnet wird, ist allen Kulturen bekannt. Überall auf der Erde beschäftigt sich der Mensch mit den Zusammenhängen des Lebens, mit Ursachen und Wirkungen und mit der Frage nach dem Sinn. Vor Urzeiten seiner selbst bewusst geworden, versteht er sich als Mittelpunkt der Welt – eine alle Zeiten übergreifende Gesinnung, die seit jeher seine Position bestimmt. In dieser Illusion strebt er nach unabhängiger Selbstverwirklichung und erhofft sich dadurch die Aufhebung jener Grenzen, die von der Natur vorherbestimmt sind. Zusammen mit dem Bewusstsein entstand der unbändige Wille zum Wachsen, das Streben nach Freiheit, nach Befreiung aus der Abhängigkeit von der Natur, die allem Bewusstgewordenen als existenzbedrohend gegenüberzustehen schien. Doch wann immer diese Forderungen zu laut wurden, brachten sie ihn erneut dorthin zurück, wo er schon vielfach begonnen hatte.

Worauf kann der dem Tier entrückte und zum Heiligen nicht fähige Mensch sein Streben richten? Nach wie vor in der Natur gefangen, doch seiner selbst bewusst geworden, kennt er die unveränderlichen Gesetze, doch auch die Versuchung, sie zu übertreten – und damit die Gefahren der menschlichen Existenz. Seine Bestimmung zwingt ihn, trotz bewusstgewordenem Ich in der Unterwerfung zu leben und zwei Mächten zu dienen. Welcher Weg führt zu jenem noch fernen Menschengeschlecht, dem es möglich sein wird, das Selbst zu wahren und dennoch zu überleben. Ist es das ichhafte Streben nach Auflehnung und Bewährung in der Welt oder die von der Natur geforderte Unterwerfung? Welcher Weg gibt dem Menschen die Kraft und die Weisheit, zwischen zwei verfeindeten Mächten zu leben, beiden zu dienen und als Selbst zu bestehen?

Allen Leistungen des Intellekts zum Trotz suchen die Menschen diesen Weg heute ebenso erfolglos wie eh und je. Zu allen Zeiten bezahlten sie für ihre Fehler mit Krieg und Tod und erkannten immer zu spät, dass sie dem falschen Weg folgten. Nur wenige lernten aus der Geschichte und begriffen, dass alle Wege stets dasselbe Ziel suchten und, dass alles Streben der Menschheit aus dem ewigen Wiederholen desselben Irrtums bestand. Der Intellekt führte zu enormen Erkenntnissen, doch es gelang ihm nicht, ein Bewusstsein zu schaffen, das dem Menschen erlaubt hätte, seinen Platz zwischen Erde und Himmel zu finden. Stets im Krieg mit beiden, riefen die Menschen in ihrer selbstverschuldeten Not nach immer neuen Wahrheiten, die das Unheil der alten abwenden sollten – doch zugleich forderten sie den erneuten Kompromiss mit den seitjeher begangenen Fehlern.

Alle Wege zur Erlösung, die von den – wenigen – Einsichtigen gelehrt und gegangen wurden, scheiterten am Egoismus und der Habgier der Vielen, an deren Unfähigkeit zu Erkenntnis und Selbsterkenntnis und jener unausrottbaren Gesinnung, die vor dem Leben keine Achtung hat. Seit Menschengedenken wurde von den „Sehenden“ immer dieselbe Wahrheit wiederholt, doch die Masse folgte stets jenen, die ihr Wohlstand, Sicherheit und Freiheit versprachen. Dieser Weg brachte immer neues Verderben und eine immer schwerer wiegende Erblast für die folgenden Generationen. Ohne Bemühung um inneres Wachstum bleibt der Mensch ein Wesen ohne Ethos und Geist. Er ist dann nichts weiter als eine am Egoismus gescheiterte Möglichkeit, ein falsch genutztes Potenzial – keineswegs „ein Wert an sich“, sondern vielmehr schuldig und gefährlich. Individuell unscheinbar und klein, gewinnt er durch die Massengesinnung Macht und damit Einfluss auf das Schicksal der Welt. Mit dilettantischer Kurzsichtigkeit, getragen von bequemen Instinkten, wehrt er sich gegen jeden Aufruf zur Überwindung der Selbstsucht. Sein Lebensverständnis reduziert sich auf den Anspruch, der Nabel der Welt zu sein und in dieser nach eigenem Gutdünken zu hausen. Ein solcher Mensch empfindet jede Störung dieses Gefühls als persönliche Bedrohung, wehrt sich verzweifelt gegen jeden Aufruf zur Besinnung und empfindet jeden Weg, der anderes beinhaltet, als das, was in sein Ichdenken passt, als hassenswert und feindlich. Der übergreifenden Erkenntnis nicht fähig, fordert er zur Rechtfertigung seines Denkens nichts dringlicher als eine solide Dogmatik mit Zugeständnissen an seine ichbezogene Lebensauffassung. Jede darüber hinausgehende Ermahnung erinnert ihn an Tod und Vergänglichkeit und beinhaltet die Gefahr, den Wahn des Ich von seiner Unvergänglichkeit und Größe zu stören. Dieses Denken hemmt seit eh und je das geistige Wachstum des Menschen und ist daher das größte Hindernis auf dem Weg zu jener inneren Haltung, die in den Dō-Übungen gefordert wird.

Alles, was die Menschheit an geistigen Werten zu besitzen glaubt, entstand und verging mit dem Geist des einzelnen, der sich jenseits von Dogma und Kollektiv der Herausforderung durch das Ideal stellte. Ein solcher Wert begründet sich nur in einem individuellen und selbstlosen Kampf gegen die Fesseln der Triebe, im Opfer des Ich für das Ideal, und überlebt den Begründer nicht als Wert, sondern nur als Form. Dem Wert selbst stand das „Gewohnheitstier“ Mensch zu allen Zeiten verständnislos und staunend gegenüber. Die Masse ist zu keinem echten Wert fähig, weil ihr Denken von Selbstsucht bestimmt und von Dogmen gelenkt wird. Deshalb ist der Weg zum Menschen immer ein individueller und wird erst dann der Weg aller sein, wenn der Wunsch nach geistigem Wachstum Allgemeingut geworden ist. Bis dahin sprechen alle echten Wege nur den einzelnen an. Alles, was davon in die Masse QieAt, ist Form, die nicht als Wert, sondern als Beispiel für die eigene Sinn-Findung gedacht ist. Aus allen Zeiten sind solche beispielhaften Wegbereiter bekannt, in deren Umfeld potentielle menschliche Werte sichtbar wurden. Überall dort, wo ein Mensch die Erkenntnis lebte, dass Sein kein Selbstzweck ist, sondern einen Sinn in sich birgt, entstand auch die Möglichkeit zu einem Weg. Dort, wo einzelne erkannten, dass die Steigerung menschlicher Fähigkeiten nie eine Form als Ziel anstrebt, sondern ein Mittel zur Selbst-Findung ist, wurde der Weg entdeckt, der die Entwicklung menschlicher Werte ermöglicht, der Weg zum Ideal. Einzelne, die diese Wege gingen, wurden zum Vorbild, denn sie verwirklichten ein Bewusstsein, das anderen als Beispiel durch alle Zeiten diente: Sie lehrten die Vervollkommnung des menschlichen Geistes durch die Liebe. Nur durch sie kann bewusstes Leben die Welt gestalten, ohne sie im Wahn zu vernichten. Doch dort, wo die Masse solchen Weglehren begegnete (Jesus, Buddha, Mohammed u. a.), erkannte sie ihre Beispielhaftigkeit nie als Möglichkeit, sondern nur als Form. So eröffnet sich der Weg nach wie vor nur jenem Menschen, der die Herausforderung in sich selbst sucht. Das Beispiel wurde immer zum Dogma, weil die Menschen sich stets darauf verließen, dass die Institutionen mit den formellen Inhalten auch den Sinn übernahmen. So bemüht sich der einzelne auch heute mehr um eine autorisierte Zugehörigkeit zum Gemeinschaftswert als um sich selbst. Doch ohne eigenen Sinn ist darin kein Weg zu finden, und deshalb endet jedes Bemühen um Formwerte zumeist in Parteilichkeit und somit erneut in Schuld. Jedes kollektive Ideal ist ohne eigenen Sinn ein fiktiver Wert und heiligt alle Mittel, wenn es durch Massengesinnung anstatt durch Individualität getragen wird. Mit dem Vertrauen in die bloße Zugehörigkeit zu einem heiligen Dogma sind die Menschen seit jeher in die Kriege gezogen und haben ein unvorstellbares Ausmaß an Schuld auf sich geladen. Jede Instanz besitzt dieses Potenzial, und wird es aufgrund von Machtinteressen aktiviert, ist jedes Gemeinwohl vergessen, gleich ob es sich dabei um Kirche, Staat oder sonst eine Institution handelt. Nichts ist gefährlicher und nichts lebensfeindlicher als die Illusion vom menschlichen Ideal in der organisierten Masse. Jeder wahre Weg führt zur persönlichen Freiheit, doch weder zu jener Freiheit, die Nachbeter von vorgefertigten Dogmen fordern, noch zur Befreiung von allen Konventionellen, wie es unreife Menschen wollen, sondern zur inneren Freiheit. Auch für den freien Menschen gibt es natürlich die Konventionen, die Regeln und die Verbote, denn sie sind die einzige Möglichkeit, menschliches Zusammenleben zu ordnen. Doch der Weg zur legitimen Individualität löst die träge Abhängigkeit von ihnen auf und bindet sie durch Selbsterkenntnis an einen inneren Sinn. Erst dort beginnt die freie Persönlichkeit. Diese ist gekennzeichnet durch ein stetes Sich-Lösen aus dem Gefangensein in unüberprüftem Gewohnheitsdenken. Nicht jedoch im Kampf um die Abschaffung der bindenden Regeln, sondern in der Suche nach persönlicher Tiefe, Verständnis und Sinn gewinnt sie Inhalt und schlägt so die Brücke zwischen Form und Denken, zwischen Gebundenheit und Freiheit, zwischen Mensch und Welt. Weder im Kampf gegen noch im Verfechten von dogmatischen Gesinnungen, zu deren Verständnis der Geist nicht reicht, sind Persönlichkeit und Freiheit möglich.

Weg und Form

Nichts schadet dem werdenden Menschen mehr, als in einer ungeformten Individualität zu verharren, die durch Besserwisserei jedes Lernen verhindert. Aber nicht minder naiv ist es, das Individuelle zugunsten eines unverstandenen Systems aufzugeben und das eigene Denken durch dessen Regeln und Maßstäbe zu ersetzen. Der Mensch im Wachsen pendelt selbstkritisch zwischen innerer Überzeugung und äu0erem Einfluss hin und her. Der eigentliche Wert liegt in keinem der beiden, sondern im Zulassen eines inneren Reifeprozesses durch ihre Verbindung. Das System ist ein Weg zum inneren Werden, eine Hilfe bei der Suche nach dem eigenen Sinn, nicht jedoch ein Ziel. So ist es immer der sich selbst erkennende Mensch und nie der Formspezialist, der darin Wert verwirklicht. Wenn der eigene Sinn fehlt, gibt es kein Wachsen, sondern bestenfalls ein Nachahmen von Formen, was zum Fanatismus oder zur bedingunslosen Abhängigkeit, nie jedoch zur Freiheit führt. Zumeist war dies der Weg aller überlieferten Systeme. Als Möglichkeit und Beispiel zur Formung des Selbst gedacht, gipfelten sie in inhaltlosen Formen mit denkfeindlichen Nachahmern. Nur einzelnen gelang es, darin den Weg zu erkennen und den Ursprungsgedanken in sich selbst zu verwirklichen. Für die meisten blieb nur die Form.

Vor allem zwei Hindernisse zum Systemverständnis stehen dem Menschen im Weg: zum einen der Glaube, dass ein System den Mangel an eigenem Denken ersetzt, dass es für gedankenlos gemachte Fehler geradesteht und allein im Nachahmen einen Wert besitzt, und zum anderen der überhebliche Intellekt, der ein System verstehen will, ohne zu bedenken, dass jedes, auch das elementarste Verständnis über die Selbsterkenntnis führen muss. Gefangen in diesem Irrtum, entwickelt sich ein Systembewusstsein, das an der Realität des Lebens vorbeigeht. Das System verliert seine Bedeutung durch die Naivität, mit der man seine Formen interpretiert. Allen Systemen gemeinsam ist der Anspruch des Intellektuellen, es zu verstehen. Er entwickelt jenseits der Sinngehalte die Formaspekte und die Sensationsmerkmale. Nun wird das Volk aufmerksam auf das System und bekennt sich bedingungslos zu den Formspezialisten, die das objektiv Sichtbare überbetonen, weil sie den Sinn nicht verstehen. Nichts schätzt die Masse mehr als die messbare Form, und niemand steht höher in ihrer Gunst als der Formidiot. Gleich ob Religion, Philosophie oder Kunst, der wahre Sinn ging immer in der Form verloren. So vertraut der Mensch darauf, dass Religion gläubig, Philosophie klug, Kunst sensibel und Sport gesund macht, und lässt sich seinen Anteil an diesen Werten durch die Urkunden der betreffenden Institutionen bestätigen. Nachdem ein System auf diese Weise jedes Hindernis zur Dummheit überwunden hat, erlebt es die Anpassung an das Kollektivideal, mit festen Regeln und gemeinsamen Interessen. Durch die Masse autorisiert und unter Berufung auf die Formspezialisten, kann nun der im Kollektiv organisierte Bürger Ich-Wert bezeugen, indem er mit naiver Intellektualität fremde Werte nachahmt. Die eigene Denkfaulheit und die unüberwundene Selbstsucht wird mit der Gesinnung „Was alle tun, ist richtig“ entschuldigt. So darf der Fanatiker als Gläubiger, der Dilettant als Philosoph, der Kritiker als Kunstexperte und der Rekordsüchtige als Sportler gelten, und alle haben einen Wert, weil sie einem autorisierten System folgen. Nur selten verwendet einer ein System als Möglichkeit zur eigenen Sinn-Findung. Meist wird unter Berufung auf die autorisierte Form der Sinn entfernt und die kollektive Gewohnheit als Rechtfertigung für die eigene Sinnlosigkeit gebraucht. Der Sinn wurde seit jeher nur vom einzelnen gesucht – dann, wenn die Bereitschaft zum Opfer des Ich vorhanden war. Doch sein Schicksal ist es, von den Zeitgenossen verkannt und geächtet und von den kommenden Generationen als Dogma missbraucht zu werden. Den Wegbereitern zum Sinn stehen die Masse aus Unverständnis und die Autorität aus Selbstzweck immer feindlich gegenüber und beide berufen sich auf eine durch Formaspekte unkenntlich gemachte Weisung der alten Vorbilder. So entsteht aus jedem Sinn in allen Kulturen, Ideologien, Religionen und Parteien ein letztendlich sinnentfremdetes, dem Geist entgegenwirkendes System. Vom Geist getrennt, verhärtet dieses zur denkfeindlichen Regel und erzeugt den Haß gegen all jene, die zu ihren Lebzeiten dasselbe Verstehen, dasselbe Aufwachen aus der passiven Denkfaulheit fordern, wie es einst die nun kanonisierten Vorbilder taten. Doch die Masse liebt nichts mehr als die substanzlose Weisung der Regel und scheut nichts mehr als den Aufruf zum Denken, zum Überwinden der Dummheit, zum Suchen nach Sinn. Die Nutznießer sind die Institutionen, und immer kehren sie sich unter Berufung auf autorisierte Interpretation der alten Weisheiten gegen die Sinnsuchenden ihrer Zeit. Nur die verstorbenen, wehrlosen Vorbilder einer Kultur eignen sich als Aushängeschild für die ewig fiktive Wahrheit der herrschenden Autorität, hinter der nie ein Glaube, sondern immer ein Kampf um Macht und Bedeutung steht. So lebt jeder höhere Sinn immer seiner Zeit hinterher. Zu allen Zeiten wurde von jenen, die den Sinn gefunden hatten, stets das gleiche gesagt und gelehrt, doch überliefert wurde nur die Form. Jeder über die Form hinausgehende Sinn erfordert das Reifwerden des einzelnen und kann deshalb nicht als handliches Gedankenpaket durch die Generationen vererbt, sondern muss stets von neuem auf einem individuellen Weg gesucht werden. Doch in allen Institutionen, in denen eine autorisierte Beamtenschaft Wegerbschaften verwaltet, wird deren Sinn stets von der Form überdeckt. Vom Christentum bis zur kleinsten Organisation der Gegenwart tötete die Form den Sinn. Für die Weisen war die Form immer nur das zeitgebundene Mittel zum zeitlosen Sinn. Doch immer wenn die Form zum Ziel wurde, setzte sie sich dem Sinn des Lebens entgegen und erstarrte im System. Das, was die Weisen aller Zeiten miteinander verbindet, ist nicht die Form, sondern immer der über alle Systeme hinausgreifende Sinn. Die letzte Konsequenz aller formerstarrten Systeme ist der Konflikt, weil Formbefangenheit zu Fanatismus und Abgrenzung führt. Jedes organisierte System besitzt das Potenzial zu Krieg und Vernichtung, und dass nicht all diese Systeme in menschlichen Tragödien gipfeln, ist nicht der weisen Voraussicht ihrer Lenker zuzuschreiben, sondern allein dem Umstand, dass es manchen Systemen an Macht und Einfluss fehlt. Wenn sich Formfanatiker über den Wert ihrer Systeminhalte streiten, liegt ihren Beweggründen das gleiche Denken zugrunde, das die Menschheit seit Jahrtausenden in die Kriege treibt.

Weg und Kultur

Der Beginn des Menschseins liegt im Bewusstwerden der Form, sein Wachsen in der Überwindung der Formabhängigkeit. Kultur entsteht im Kampf um die Überwindung der Triebe und formt den Geist, der den Menschen aus der Formabhängigkeit befreit. Seit altersher wissen die Weisen, dass der Lebenssinn nicht lehrbar und in keiner anderen Lebenshaltung erkennbar, sondern immer nur im eigenen Kampf um die Überwindung der Triebe zu erfahren ist. Wo dieser Kampf nicht stattfindet, wird jede erschaffene Form zur Gefahr. Gleichzeitig aber enthält jede Arbeit an der Form auch die Möglichkeit zu diesem Kampf, wenn der Mensch den Weg () sucht. So ist es auch im budō nicht die Form, sondern der Weg, der die Fähigkeit des Menschen zum Sinn bewirkt. Die bloße Perfektion der Form ohne den Weg führt zum Sinnverlust. Das Spiel mit den Formen ohne Rückgebundenheit an einen inneren Kampf ist in der Menschheitsgeschichte immer kulturlos gewesen. Einzig dort, wo es einzelnen gelang, sich von der Schwerkraft der Form zu befreien, entstand Kultur. „Der liebe Gott muß immer ziehen, dem Teufel fällt's von selber zu“, sagt Wilhelm Busch und spricht damit die beiden Extreme der menschlichen Polarisierung an: den selbstwirkenden Hang zum Trieb und die eigenverantwortliche Initiative zum Geist. Doch Geist ist nicht allein durch gesteigerte Intellektualität gewährleistet, sondern definiert sich erst in einem individuellen Kampf um Erkenntnis und Selbsterkenntnis. Er bedarf über alles formelle Lernen hinaus einer persönlichen Übung des Lebens, eines Kampfes um individuelle Reife. Fehlt dieser, bleibt der nur intellektuelle Mensch sinnlos und damit ideologisch beliebig lenkbar. Auch Kultur entsteht erst im Kampf des nach Freiheit strebenden Menschen gegen den ihn fesselnden Trieb. Dessenungeachtet drängt es die Menge nur zu formellen Inhalten, zu unverbindlichen Weltanschauungen ohne Kampf um individuelle Reife. Die Menschen heute sind mehr denn je von der Sucht nach immer neuen Abwechslungen ergriffen. Heutzutage braucht jedes System den begleitenden Schock, durch den es den Maßstab sprengt und die Grenze überschreitet. Sein Sinn liegt nicht mehr im Wert, sondern im Außergewöhnlichen, gleich wie absurd und widersinnig es sein mag. An solch überzüchteten Formen zerbricht jeder Sinn, und erzeugt wird der Glaube an fiktive Werte. Erst im Gefolge dieser Verzerrung können Politiker Aufrüstung, Zerstörung der Umwelt und andere „notwendige Maßnahmen“ als sinnvoll propagieren, ohne auf breiter Basis Widerspruch hervorzurufen. Auf derselben Sinnrechtfertigung basiert auch die Wertvorstellung einer Gesellschaft, die den kranken Menschen für die gesunde Wachstumssteigerung in Kauf nimmt und die Gewinnsucht per Gesetz zur Tugend verkehrt. Nur der denkfeindliche Mensch kann in dieser offensichtlichen Sinnlosigkeit einen Sinn entdecken. Die durch fiktive Sinninhalte manipulierten Menschen entwickeln lebensgefährliche Tendenzen. Der Selbstzweck wird heilig, das Dogma ersetzt das Denken und dient zur Rechtfertigung jeden Unsinns. Das Streben einzelner nach dem Ideal, die seit jeher stärkste Kraft gegen den Egoismus, gegen die Dummheit und gegen die Gier, wird durch den schon immer denkfeindlichen Apparat der Organisationen und Institutionen isoliert und als sinnentfremdet bekämpft. Seit Anbeginn der Zeit ist kein Weg, der den Menschen Kultur bringen sollte, über dieses Hindernis hinwegkommen.

Weg und Reife

Das Streben nach Perfektion kann von zwei verschiedenen Haltungen beeinflusst sein: vom Bemühen um eine äußere Form oder vom Bemühen um eine innere Gestaltung. Im ersten Fall will man die Anerkennung in der Welt, im zweiten sucht man den Kampf um persönliche Reife. Soll eine Übung dem Weg dienen, muss sie auf die erste Haltung verzichten. Reife Erkenntnis entsteht nur im Kampf gegen die Tendenz zur Selbstdarstellung, die Formvollendung als Selbstzweck anstrebt. Darin liegt der Unterschied zwischen budō und Sport. An der primären Entscheidung, welchem Zweck die Übung dienen soll, und nicht in der Formübung selbst scheiden sich die Wege. Auf beiden Wegen ist es dieselbe Form, der Unterschied liegt allein in der Absicht: Will der Mensch die Form, um mit ihr zu gelten, oder übt er sie, um selbst zu wachsen? Richtet er seinen Blick auf die Welt oder in sein Inneres. Der Inhalt, der Sinn und das Ergebnis seiner Übung hängen von dieser Entscheidung ab. Auf dem Weg dient die Übung der Form dem inneren Wachstum und nicht den Ansprüchen des kleinen Ich. Trotzdem bleibt sie ein Ziel, doch nicht um des Formwerts willen, sondern um eine innere Auseinandersetzung mit dem Ideal zu bewirken. Die Qualität dieser Auseinandersetzung ist entscheidend. Bei der richtigen Haltung hat das Wissen um die Unvollkommenheit der Formen jedesmal einen neuen Kampf zur Folge, eine neue Herausforderung. Erschöpft sich diese Herausforderung in äußeren Vergleichen (Wettkampf des Könnens oder Wettkampf des Wissens), kann sie das Reifen verhindern. Jede Herausforderung außerhalb des Ideals endet im Selbstzweck und will die Form, nie den inneren Kampf. Doch erst der innere Kampf ermöglicht einen Blick in die eigene Tiefe. Wird dieser Kampf vom Ich geführt, stagniert jeder Reifeprozess, und die Form endet im Wettbewerb. Dann dient die Technik dem Gewinnen.

Fortschritt auf dem Weg entsteht aus dem Wissen um stets vorhandenes Unvermögen und in der Herausforderung, das Höchstmögliche zu erreichen. Hier unterscheidet sich die Weglehre von der Lehre an Schulen und Universitäten. Das den Schülern dort vermittelte Wissen versteht sich als objektiver Wert, als Absolutum, ohne den inneren Kampf um Selbstverwirklichung und Selbsterkenntnis. Auf dem Weg dagegen wird jede sichtbar werdende Form sofort in Frage gestellt. Kein objektiver Wert überlebt als feststehende Größe, sondern immer nur als Ausgangspunkt für eine subjektive Erfahrung. Die eigene Verpflichtung zum Selbstbetrachten und Selbstsuchen in dem sich ständig erweiternden Kreis subjektiver Erfahrungen ist enorm. Diese Verpflichtung allein vermag es, den Übenden vor dem Gefangensein in den Formen zu bewahren. Der Fortgeschrittene auf dem Weg verwendet jede nur erdenkliche Form zur Auseinandersetzung mit sich selbst. Er weiß, dass keine an ihn herangetragene Form ohne diese Auseinandersetzung einen Wert hat und dass jedes Bemühen um Formvollendung nicht Selbstzweck, sondern ein Mittel zur stetigen Selbstverwirklichung sein sollte. Deshalb ist auch die Form im budō keine Kette von überlieferten Werten, an denen ein Übender automatisch teilhat, wenn er sie beherrscht. Sie ist nichts weiter als eine Möglichkeit, zu sich selbst zu finden. Nur wo sie diesen Kern im Menschen berührt, gewinnt sie Inhalt. In der bloßen Nachahmung einer Form, gleich ob sie aus Wissen oder Können besteht, liegt nie ein Sinn.

Zusammenfassung

In Asien ist budō einer dieser Wege. Budō ist der Oberbegriff für alle Wege (), die sich aus den japanischen Kriegskünsten (bujutsu) ableiten. Im einzelnen besteht er aus vielen Systemen gudo, kendō, karate-dō, kyudō, aikidō usw., in deren Bezeichnung jeweils der Begriff enthalten ist. Damit wird deutlich, dass die Kampftechnik nicht zum Selbstzweck geübt wird, sondern dem höheren Ideal des Weges dient. Budō entwickelte sich als Weg aus dem rein kriegerisch orientierten bujutsu. Dessen Lehrer erkannten, dass im Üben von technischen Fertigkeiten, die allein dem Töten dienen, kein Sinn und kein menschlicher Wert liegen. Dadurch veränderten sich die Ziele ihrer Übung, und sie richteten das Schwert nicht mehr gegen den Gegner, sondern gegen sich selbst. Sie erkannten, dass der ungeheure Drang zu allen Äußerlichkeiten das eigentliche Hindernis auf dem Weg zu jeder höheren Erkenntnis ist und somit der Feind nicht auf dem Schlachtfeld, sondern im eigenen Innern bekämpft werden muss. Dank dieser Erkenntnis wandten sich viele Meister der japanischen Kriegskünste im 16. Jahrhundert vom Kampf ab und formulierten ein neues Prinzip, das nicht das Töten, sondern das Leben lehrt. Mit budō ist also nicht ein Weg gemeint, der auf ein Können oder Wissen abzielt, wenngleich die Fähigkeit zu kämpfen ein natürliches Produkt der Übung ist, so wie der reife Apfel vom Baum fällt, ohne etwas dazu zu tun. Die Übung der Kampfkunst bedient sich der Technik, doch sie meint das Ich. In dem Maße, in dem das Können wächst, gilt es, den Selbstzweck zu überwinden und das egoistische Streben nach äußerem Glanz durch Demut, Anpassung und Bescheidenheit zu ersetzen. Budō ist eine Art zu leben, eine ständige Erfahrung im Umgang mit sich selbst, die den Menschen freier, gesünder und ausgeglichener macht. Auf einem solchen Weg übt der Mensch keine Technik zu irgendeinem Zweck, sondern er übt sich in der Bindung an das höchstmögliche Ideal. Jede Übung des Weges beinhaltet den Versuch, den Menschen aus seiner Gefangenschaft, aus dem Bannkreis seines kleinen Ich zu befreien. Wert gewinnt eine solche Übung nur dann, wenn sie frei ist von der Tendenz zur Selbstdarstellung, von der Absicht auf Gewinn. Die Übung der Kampfkünste rechtfertigt nur durch dieses Streben ihren Anspruch, eine Kunst des Weges () zu sein. Als solche lehrt sie, dass das Leben nur so viel Sinn enthält, wie der Mensch ihm zu geben vermag. Keine Philosophie, keine Religion, überhaupt kein System trägt einen Sinn in sich, sie alle sind nur Hilfen, den eigenen Sinn zu finden. Der Mensch, der sich in ihre Formen flüchtet und ohne eigenen Sinn zu leben versucht, ist weniger als ein Tier. Sinn gewinnt ein System nur urch den Weg, der im Dienst eines Höheren steht und die Tendenz, den niederen Trieben nachzugeben bekämpft. Fehlt dieser Sinn, sind auch die Kampfkünste nichts weiter als eine geistlose Parodie mit hochgezüchteter Technik und intellektualisierter Philosophie, ohne menschlichen Wert und ohne Inhalt.

Studien Informationen

Siehe auch: Dōjō | Dōjōkun |

Literatur

  • Werner Lind: Budo, der geistige Weg der Kampfkünste. Scherz-Verlag 1993.
  • Werner Lind: Klassisches Karate do. Sportverlag
  • Werner Lind: Lexikon der Kampfkünste., BSK 2010.
  • Karlfried Graf Dürckheim: Der Ruf nach dem Meister. Barth-Verlag 1987.
  • Sasama, Yoshiko: Nihon Budō-Jiten. Tōkyō 2003.
  • Oscar Ratti, Adele Westbrook: Secrets of the Samurai. Tuttle 1973.
  • Mitsuo Kure: Samurai, der Weg des Kriegers. Stocker-Schmid AG, Zürich 2006.
  • Stephen Thurnbull: Geschichte der Samurai. Stocker-Schmid AG, Zürich 2005.

Weblinks