Ganzkörperbewegung

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Artikel von: Werner Lind

Shitai undō (jap.: 肢体運動): Ganzkörperbewegung. In dem Begriff bezeichnet undō die Bewegung, shitai die Gliedmaßen des menschlichen Körpers (shi und karada); tai den Körper, shishi die Glieder, kashi die Beine, und jōshi die Arme.<br.> Die Übung der Technik (waza) im budō beinhaltet als eines ihrer wichtigsten Ziele die Entwicklung der Ganzkörperbewegung. Diese hat ihren Ursprung in der rechten Haltung (shisei), die ausgehend von der Körpermitte (hara) aufgebaut wird. Die Bewegung der Körpermitte geschieht mittels Hüftbewegungen (koshi sabaki) oder mittels Fußbewegungen (ashi sabaki). Es gibt auch die Kombination zwischen beiden oder die aufeinanderfolgende Hüft- und Fußbewegung.

Shitai undō - Ganzkörperbewegungen

Die Technik (waza oder jutsu) ist Ganzkörperbewegung (shitai undō) und besteht als solche aus zwei Komponenten: Extremitätenbewegung (shishi undō) und Rumpfbewegung (tai sabaki). In der Betrachtung der Technik ist festzustellen, dass es immer um die Verwirklichung eines harmonischen Verhältnisses zwischen Extremitätenbewegung (tsuki, uke, uchi, keri) und der Fortbewegung des Rumpfes (tai sabaki) geht, wodurch Gleichgewicht erhalten und Kraft in die Technik übertragen werden kann.


  • Shishi undō - Extremitätenbewegung
Jōshi undō - Armbewegungen
Uke - abwehren
Tsuki - stoßen
Uchi - schlagen
Kashi undō - Fußbewegungen
Keri - treten
  • Tai sabaki - Körperbewegungen
Koshi sabaki - Bewegung der Hüfte
Ashi sabaki - Bewegung der Füße


Meisterliche Technik ist die Einheit beider Bewegungsformen im harmonischen Ablauf der Ganzkörperbewegung. Darin dient die Extremitätenbewegung (shishi undō) der Arbeitsverrichtung, und die Rumpfbewegung (tai sabaki) der Überwindung der eigenen Schwerkraft. Als wichtigste Voraussetzung zum Erreichen der Ganzkörperbewegungen gelten die Prinzipien shisei (Haltung), kinchō (Spannung) und kokyū (Atmung). Ihre Entwicklung im Bewegungsbild eines Menschen hängt vom psychischen Standpunkt gegenüber dem Leben in einem weit höheren Maß ab als vom rein äußerlichen Formaspekt. Der Lehrer (sensei) muss das Bewusstsein des Schülers (deshi) von der Wirkung weg in die Grundlagen der natürlichen Bewegung lenken. Dies geschieht, indem er die Grundlagenprinzipien des kihon berücksichtigt.

Der Weg zum Verständnis der Ganzkörperbewegung ist in der Übung der Technik nicht automatisch enthalten. Der Schüler strebt in der Ausführung der Technik nach der Wirkung und benutzt dazu die ihm eigenen Bewegungsgewohnheiten. Diese jedoch lassen die Entwicklung der Ganzkörperbewegung nicht zu. Der Lehrer (sensei) muss das Bewusstsein des Schülers (deshi) von der Wirkung weg und in die Grundlagen der natürlichen Bewegung (Haltung, Spannung, Atmung) lenken. Dies geschieht, indem er auf die äußerst genaue Ausführung der Grundschultechniken besteht.

Gewandtheit und Geschicklichkeit

Die Erklärung für die durch die Zeit erkrankte Bewegungsauffassung des Menschen liegt in seiner geschichtlichen Evolution und hat ihren Grund in der Heranformung des logischen Denkens, durch das der Mensch die Geschicklichkeitsbewegung (machen, gestalten, verändern) gegenüber der Gewandtheitsbewegung (lassen, dulden, bewahren) zu überakzentuieren begann. Durch das logische Denken in Verbindung mit der Geschicklichkeit seiner Extremitäten erleichterte er sein Leben und begann eine seinen Zielen und Vorstellungen entsprechende Welt zu erbauen, durch die er in die Auseinandersetzung mit der zur Unterwerfung auffordernden Natur geriet. Das sich durch Bewusstsein verwirklichende Leben begann in einem immer höheren Maß von der logischen Beurteilung der Situationen abzuhängen. Überhaupt bedingen diese im Geschicklichkeitstun verflochtenen Prozesse des Erkennens, der Analyse und nutzbringenden Arbeit die Werdung jenes Lebens, das sich vom duldenden, der Natur unterworfenen unterscheidet. Doch dies ist nur der vom Bewusstsein erkannte Auftrag des Lebens, sich durch Strebsamkeit gegen die Natur durchzusetzen, sich durch Arbeit zu verwirklichen und die Welt im Werk zu gestalten. Dieser Sinn ist es, dem der Anfänger ausschließlich gehorcht, wenn er ein dōjō betritt.

Das logische Denken ist eng mit der arbeitsverrichtenden Extremitätenbewegung verbunden und erkennt als einziges Ziel die Leistung. Im logischen Denken ist daher jede Übung eine Übung zu einem Zweck, d.h. eine Übung zur Steigerung eines erkennbaren Formwertes. Die Motivation eines in der Logik gefangenen Menschen zu einer Handlung nährt sich immer mit der Hoffnung, eine objektive Wertsteigerung zu erreichen. Das logische Denken kann eine Übung ohne Selbstzweck weder verstehen noch akzeptieren. Daher werden die eigentlichen Werte der budō Übung zumeist schon im Ansatz verkannt, wenn nur die Ratio verstehen will.

Der Antrieb zu jeder Zweckübung ist die Konzentration der logischen Aufmerksamkeit auf die in der Geschicklichkeitsbewegung erreichbare Leistung, und dies ist der hauptsächliche Motor für jeden Schritt, den ein Anfänger in einem dōjō tut. Mit anderen Worten, der Anfänger konzentriert sein Wollen auf die Bewegung seiner Extremitäten und interessiert sich in erster Linie für den unmittelbaren Erfolg seiner Handlung. Durch diese Denk- und Bewegungsgewohnheit jedoch kann er den Weg des budō nicht verstehen.

Die Gewandtheit hingegen bezeichnet die Bewegung des Rumpfes, des tragenden Teils jeder extremen Beweglichkeit. Während die Geschicklichkeit von der Logik gesteuert wird und vorwiegend von der visuellen Erkenntnis des Raumes abhängt, ist die Gewandtheit die Parallele zum Urzustand des in der Natur angepassten Lebens und verbindet sich vorwiegend mit dem intuitiven Empfinden der Umgebung. Die Überwindung der Schwerkraft und die Erhaltung des Gleichgewichtes werden von ihr gesteuert. Man „sieht um sich“ und „hört in sich hinein“. Das erste ist ein Symbol der Gestaltung, der Aktivität, der Auflehnung; das zweite ein Ausdruck der Bewahrung, der Passivität, der Anpassung.

Die Bewegung der Gewandtheit steht als Sinnbild für das angepasste Befinden in der Welt. Die Gewandtheit unterliegt hauptsächlich der Intuition und formt einen ausgeprägten Sinn für inneres und äußeres Gleichgewicht, für die Orientierung in der Umgebung und den Umgang mit sich selbst. Als fundamentale Form der Bewegung hat sie eine intensive Verbindung zu den tiefsten Schichten der Seele, deren Eigenschaften sie in demselben Maß beeinflusst, wie der Mensch es vermag, Bewegung zuzulassen, statt zu machen, d.h. Vertrauen in seinen natürlichen Ursprung zu finden. Dies steht im Gegensatz zu dem Auftrag an das bewusste Leben, sich gegen die Natur zu behaupten. Es ist die tragende und zugleich grundlegende Seite des Lebens, die für den Menschen ebenso wichtige, ohne die er nicht existieren kann. Es ist der Auftrag, in allem Streben die Achtung vor dem Urgrund zu erhalten, in jedem Anspruch das Gleichgewicht zu wahren und in jedem Gestalten dem Sinn des natürlichen Lebens zu gehorchen. In dem Maß, in dem der Mensch die Welt durch dieses Bewußtsein erkennt, lebt er im Gleichgewicht seiner beiden Bestimmungspole. Er kann sich anpassen, und er kann wirken. Dieses Bewusstsein wird im budō durch die Übung der korrekten Technik vermittelt.

Das philosophische Prinzip

Leistung (Geschicklichkeit) und Reife (Gewandtheit) stehen sich in jeder Wegübung gleichberechtigt gegenüber. Der Sinn der Übung liegt in der Verbindung der beiden und führt den Menschen auf jenen Weg (), auf dem er beide gleichermaßen verwirklicht: er erfüllt seinen menschlichen Auftrag zur gestaltenden Leistung und gehorcht dennoch dem Aufruf der Natur zur Anpassung und Unterwerfung (mosshōseki). Erst damit rechtfertigt er seine Existenz und vermag den vollen Umfang seiner Bewusstwerdung zu verstehen: die Welt zu gestalten und zu erhalten. Zwischen diesem philosophischen Prinzip und der Übung der Technik gibt es eine intensive Beziehung (shisei), die durch den nach Selbsterkenntnis strebenden Geist (shin) hergestellt wird. Um sie zu erkennen, muss der Mensch sein Denken zurechtrücken, seine Ansprüche ausgleichen, sein Streben lenken und seinen Zielen den rechten Sinn geben.

In der praktischen Übung des budō wird daher der Schwerpunkt von der Extremitätenbewegung weg und hin zum Empfinden des Rumpfes gelenkt. Das bedeutet, der Lehrer wacht darüber, dass der Übende den Sinn der Technik nicht in der Leistung sucht, sondern im intuitiven Empfinden seiner aufrechten Gestalt (Haltung), im Umgang mit seinen Spannungsveränderungen und in der Harmonie zwischen Bewegung und Atmung. Das Üben ohne Nützlichkeitsdenken (mushotoku), der Geist ohne Zielvorstellungen (hishiryō) führt auf den Weg. Die Leere () selbst ist der Weg.

Man kann dies als Grundsatz für jedes sinnvolle Üben im budō betrachten. Die traditionelle Lehre, dass jede Handlung sich immer einer zentralen Mitte (hara) im Menschen bedient, aus der heraus sie entsteht, gesteuert und kontrolliert wird, ist für jeden wirklichen Lehrer des budō der Leitsatz für all seine Anweisungen. Die Auffassung von der einzig und allein zweckorientierten Technik, die viele Lehrer des Sport budō vertreten, ist nicht nur falsch, sondern verletzt die elementaren Grundregeln des Weges. Eine Technik mit verspannten Schultern und verkrümmtem Oberkörper ist im wollenden Ich gefangen und bewirkt, wenn sie durch Routineübung zur Leistung gebracht wird, ein dem budō entgegengesetztes Bewusstsein. All ihre Wirkungen dienen dem Ich und verhindern den Weg, da sie im Menschen eine falsche Haltung, einen falschen Geist und ein falsches Ziel begründen.

Prinzipien der Übung

Die Art und Weise, wie ein Mensch seinen Körper hält, spannt und bewegt, ist kein Zufall, sondern wird von inneren Maßstäben bestimmt. Man kann das beobachten, wenn man den körperlichen Ausdruck verschieden gepolter Menschen vergleicht (z.B. Rocker und Priester). Die Übung der Mitte (hara gei) ist keine wirklichkeitsfremde Theorie. Sie muss von den Lehrern der Kampfkünste beachtet werden, denn das Lehren allein- zweckorientierter Techniken führt in eine Sackgasse. Die rechte Übung des budō beginnt immer im Zentrum einer natürlichen Lebensauffassung und erweitert sich erst von dort aus in ihre praktische Zweckerfüllung. Will Formvollendung ihren Sinn behalten, muss das Leben ihr Maßstab sein.

Deshalb ist es wichtig, dass sich im Übenden von allem Anfang an das Verständnis für die Mitte formt, denn ohne sie ist die Gefahr groß, daß er dem Geschicklichkeitsrausch der Formen verfällt. Wird seine Übung von einem wirklichen Meister gelenkt, kann er ein Grundverständnis für seinen ganzen Körper entwickeln. Nur auf diese Weise hat er die Chance, jemals die wirkliche Technik des budō zu verstehen.

In der traditionellen Übungsauffassung, die die Mitte (hara) als Ausgangspunkt jeder Bewegung betrachtet, liegt die Einheit zwischen Körper und Geist (shintai). Die korrekt ausgeführte Technik (waza) unterhält eine starke Verbindung zur inneren Haltung (shisei), zu den psycho-physischen Spannungsverhälnissen (kinchō) und zur Atmung (kokyū) und bewirkt so das physische und psychische Gleichgewicht. Die aus dem hara heraus gesteuerte Bewegung (shitai undō) ist der Schlüssel zum Verständnis des budō als Kunst und formt jene Verfassung, aus der der Übende eigenständig in die Tiefe forscht und Oberfläche ablehnt. Nicht durch Leistungstechnik, sondern durch den Weg des budō ist Persönlichkeitsbildung durch Bewegung möglich.

Studien Informationen

Siehe auch: Hara | Undō | Shisei | Kinchō | Kokyū |

Literatur

  • Karlfried Graf Dürckheim: Sportliche Leistung, Menschliche Reife. Weitz-Verlag 1986.
  • Karlfried Graf Dürckheim: Hara - Die Erdmitte des Menschen.
  • Werner Lind: Lexikon der Kampfkünste. BSK-Studien 2010.
  • Werner Lind: Budō, der geistige Weg der Kampfkünste. O.W. Barth 1990.
  • Werner Lind: Karate Kihon. BSK 2006.
  • Werner Lind: Das Lexikon der Kampfkünste. Sportverlag 1999.
  • Horst Tiwald: Psycho-Training im Kampf und Budō-Sport. Czwalina 1981.

Weblinks