Bunkai
Artikel aus: Lexikon der Kampfkünste<br.>Nachbearbeitet von: Werner Lind
Mit dem Begriff bunkai (分解) bezeichnet man in Japan allgemein das Studium einer komplexen Angelegenheit. Im budō wird analog der Begriff kata bunkai gebraucht.
Inhaltsverzeichnis
Bunkai - Definition des Begriffes
Das Schriftzeichen für bunkai (分解) besteht aus der Kanji-Kombination von (分, bun) und (解, kai) und wird mit „Analyse“, „Zerlegung“ oder „Zersetzung“ übersetzt. Wortverwandte Begriffe sind u.a. itchi hankai (一知半解 - oberflächliche Kenntnisse) und insū bunkai (因数分解 - in Faktoren auflösen/zerlegen). Der Begriff bunkai bezeichnet in seinem Bedeutungsspektrum sowohl das „Teilen“ als auch das „Auflösen“ einer komplexen Sache, also ein tiefgründiges Studium einer komplizierten Angelegenheit auf einem zweigleisigen Weg (Auseinendernehmen und Zusammenfügen). Dieser Aspekt ist nicht nur in Bezug auf die kata, sondern auch in Bezug auf die gesamte japanische Mentalität von Bedeutung: Um das Ganze zu verstehen, muss man erst die Teile analysieren, um sie später als funktionierendes Ganzes zusammen zu fügen:
- Bun (分) - das Zeichen bedeutet „Teil“, „Anteil“ und meint sinngemäß das „Teilen einer Angelegenheit in ihre einzelnen Komponenten“. Der Begriff bezeichnet das Zerlegen eines komplexen Systems in Einzelteile, um seine Vielschichtigkeit zu analysieren und zu verstehen. Wortkombinationen sind z.B. bunkatsu (Teilung, Zerlegung), bunseki (Analyse), u.a.
- Kai (解) - das kanji bedeutet „Erklärung“, „Lösung“ und meint das Auflösen des Puzzles, das durch bun (teilen) entstanden ist. Die Erkenntnisse aus bun werden zu einem funktionieren Ganzen zusammen gefügt. Das Zeichen kann auch als ge (Erklärung, Lösung), toku (auflösen, lösen), wakaru (verstehen) interpretiert werden.
Das Wesen des Bunkai
Das Studium des bunkai besteht NICHT aus der Nachahmung von Formen. Es basiert neben einem strikt geregelten Technik-System, aus theoretischen und praktischen Studien mit erheblichen Herausforderungen an die Persönlichkeit des Studierenden. Diese sind an jeweils geographische Traditionen gebunden und müssen im entsprechenden Kulturkreis (Osten oder Westen) übersetzt werden. Das Kopieren von Formen führt nicht zum Verständnis. Auch das Wissen darum reicht nicht, wenn die Sicht des Wissens durch Vorurteile oder Egoismen verbaut ist. Daher impliziert die Methode des bunkai jenseits aller Formstudien auch ein Selbststudium. Es muss unter der Anleitung eines sensei aufgelöst werden, denn bunkai inbegreift auch die kontemplative Selbstschau (dōjōkun) und besteht im Bereich des Persönlichen zusätzlich aus fünf übergeordneten Punkten:
- das Verhältnis des Übenden zu sich selbst
- das Verhältnis des Übenden zur Welt
- Wege des rechten Strebens
- Verhaltensetikette
- gewaltloses Handeln
Praktische Regeln dafür werden unter kaisetsu zusammen gefasst. Aber immer beziehen sie sich auf eine kontemplative Selbstschau wie das Betrachten und Analysieren des eigenen Befindens in der Welt, das Erkennen und Beheben eigener Fehlhaltungen, die Bereitschaft zum richtigen Lernen, u.a. Die Übung der Form ist dazu nur Mittel zum Zweck. Der Übende verbessert nicht die Form, sonder er verbessert sich selbst durch die Form. Um diese schwierigen Prozesse zu verstehen bedarf es eines Lehrers (sensei), der den Weg (dō) lehrt und nicht eines Trainers, der die Form aufbereitet. Im budō steht deshalb die Lehrer-Schüler Beziehung (shitei) an erster Stelle.
Bunkai in der japanischen Moderne
Durch dieses hervorragend konzipierte System kopieren die Japaner seit Jahrhunderten sämtliche Technologien der Welt und vermarkten sie als verbesserte eigene Produkte. Im Verständnis dieses Prinzips ist aber in erster Linie die Überwindung des eigenen Ego (Ich) eingebaut, durch das vorurteilsloses Denken und Handeln möglich wird. Ein überbetontes Ego erlaubt keinen Zugang zur Realität, sondern produziert Vorurteile.<br.>Da aber der im Ego feststehende Mensch sein Ich nicht selbst überwinden kann und desshalb zu keiner Selbstbetrachtung fähig ist, ist für die Entwicklung seiner Persönlichkeit ein Lehrer sensei notwendig, der ihn auf einem Weg (dō) zur Reife seiner selbst führt. Bleibt der Mensch im Vorurteil und sammelt in diesem Zustand Wissen und Können, trifft er in seinem Handeln stets falsche Entscheidungen und wirkt an der Realität vorbei. Ein solcher Mensch ist im Sinne der ostasiatischen Gesellschaften untauglich und handlungsunfähig - gleich seiner intellektuellen Kompetenz. Nach wie vor werden deshalb japanische Führungspersönlichkeiten aus Wirtschaft und Politik zusätzlich zu ihrer gesellschaftlichen Funktion nach dem alten Prinzip des Weges (dō) von einem sensei geschult. Dieser greift nicht in ihre gesellschaftlichen Veantwortungen ein und vermittelt auch keine Dialektik, lehrt aber anhand seiner eigenen Methoden den Weg (dō) einer Kunst (gei).<br.>Wegkünste (geidō) sind in Japan vielgestaltig, die Kampfkünste (bugei) sind nur ein Teil davon. Doch sie werden zunehmend mehr der gesellschaftlichen Elite empfohlen. Viele Führungspersönlichkeiten der japanischen Gesellschaft üben sich zur Vervollkommnung ihrer Persönlichkeit deshalb zusätzlich in verschiedenen Wegkünsten wie kyūdō (Weg des Bogens), kendō (Weg des Schwertes), iaidō (Weg des Schwertziehens) oder karatedō (Weg der leeren Hand), usw. unter einem sensei. Der sensei ist in Japan nach wie vor eine hochgeachtete Autorität und spielt im Gesamtgefüge der Gesellschaft eine bedeutende Rolle.<br.>Mit Sport und Wettkampf im westlichen Sinn hat das alles nichts zu tun. Die Japaner üben sich in den Wegkünsten (budō), um durch die Anbindung an ihre Tradition notwendige Wertevorstellungen in ihrem Selbst zu verwirklichen. Sie verwenden den Bezug zu ihrer Tradition als Mittel der Bildung. Für den nach Bildung Suchenden sind sie philosophische Wege der Selbstbetrachtung zum Zwecke der Selbsterkennung und sicher kein Sport (obwohl es diese Entwicklung in Japan auch gibt). Der nach Sinn Strebende übt die Form (kata), um ihren Inhalt (bunkai) und letztlich sich selbst zu verstehen.
Übertragung in den Westen
Diese Methode wurde auch vom Westen kopiert. Doch man kopierte die Form ohne Inhalt und ohne Anbindung an Kultur, Kunst und Tradition. Durchaus erkannte man die Vorteile der japanischen Methode, doch die Umsetzung in die Praxis blieb lückenhaft. Heute gibt es sowohl im Osten als auch im Westen Lehrer und Trainer. Ein Lehrer (sensei) entsteht durch ein lebenslanges Studium des bunkai, ein Trainer ist das Produkt einer sportlichen Ausbildung. Der erste unterrichtet Inhalt, der zweite unterrichtet Form.
Bunkai in der Wirtschaft
Im Versuch, der Wirtschaft zu helfen wurde im Westen das japanische System kopiert und im Schnellverfahren entsprechende Psycho-Trainer für Manager ausgebildet. Teure Schulungszentren sprießen heute überall aus dem Boden. Doch die Betreiber unterrichten meist einen zweifelhaften Psychobrei zur Selbstfindung und Selbstverwirklichung und berufen sich häufig auf die asiatischen Wegkünste (budō). Die meisten von ihnen standen aber nie in einem dōjō, haben nie unter einem sensei gelernt, sondern erhielten ihre Urkunden von äußerst fragwürdigen Institutionen, deren Betreiber budō als Marktlücke entdeckt haben. Solche Seminare nützen nur wenig - wer verstehen will, muss regelmässig in ein dōjō gehen und viele Jahre lang unter einem sensei üben. Die westlichen Budō-Seminare für Manager sind teuer aber wirkungslos.
Bunkai im Budō
Im Westen wurde budō zum Sport erklärt und den staatlichen Sportorganisationen (in Deutschland dem DSB) unterstellt. Dies ist sicher für all jene, die einen Kampfsport betreiben richtig aber für all jene, die mit ihrer Kampfkunst einen Weg (dō) gehen wollen falsch. Kampfsport und Kampfkunst unterscheiden sich grundlegend voneinander.<br.>Das Zentrum jeder Budō-Kultur ist die kata. Das korrekte Studium der Kata ist gleichzeitig ein roter Faden im Aufbau des Kampfkunstsystems (ryū - Fachrichtung, Stilrichtung oder Schulungsmethode). Kampfkunstübende, die am Weg (dō) und nicht am Wettkampf () interessiert sind mit ihrer Kampfkunst einen Weg (dō) gehen wollen, werden sich daher hauptsächlich auf das bunkai ihrer kata (kata bunkai) konzentrieren, denn allein dadurch erreichen sie mit ihrer Übung einen höheren Sinn.
Studien Informationen
Siehe auch: Kata | Kata bunkai | Studium der Kata
Literatur
- Werner Lind: Lexikon der Kampfkünste. BSK-Studien 2010.
- Werner Lind: Budo - der geistige Weg der Kampkünste. Scherz 1991.
- Werner Lind: Karate Grundlagen. BSK 2005.
- Werner Lind: Karate Kihon. BSK 2007.
- Werner Lind: Karate Kumite. BSK 2010.
- Werner Lind: Karate Kata. BSK 2011.
- Shoshin Nagamine: The Essence of Okinawan Karate., Tuttle 1976.
- Richard Kim: The Weaponless Warriors. Ohara 1974.
- Morio Higaonna: Okinawa Goju ryū. Minamoto Research, 1985.