Kyūsho

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Artikel von: Werner Lind<br.>Nachbearbeitet von: Stephanie Kaiser

Die Kyūsho (jap.: 急所 - schnelle Stellen) sind das Resultat jahrhundertealter Kriegerstudien von verletzlichen Körperstellen am Gegner. In allen Kriegerkulturen der Welt gab es entsprechende Betrachtungen, die sich bis in die Praxis der modernen Kampfsportarten erhalten haben. Auch der Boxer weiß, dass Treffer zum Kinn oder zur Schläfe wirkungsvoller sind, als Treffer auf die Brust.

Das Konzept der Kyūsho

  • Karahō (waffenlose Systeme) - Die meisten kyūsho der waffenlosen Systeme bezeichnen verletzliche Stellen am menschlichen Körper, die mit Schockwirkungen von Körpertreffern (atemi waza), Luxationen durch Gelenkmanipulationen (kansetsu waza) oder Festlegetechniken durch Immobilisationen (katame waza) geschädigt werden. Die Körpertreffer wirken durch einen mechanischen Schock auf Gehirn, Solarplexus, Leber und Nieren, Hebel zerreißen die Gelenkverbindungen, Immobilisationen schnüren die Luft oder den Blutkreislauf ab.
  • Bukihō (bewaffnete Systeme) - Die Krieger suchten ihrer Angriffsziele in den Schwachstellen der gegnerischen Rüstung, und lokalisierten Punkte, die mit der jeweils verwendeten Waffe wirkungsvoll angegriffen werden konnten. Daher sind überlieferte densho heute nicht problemlos in andere Anwendungsbereiche übertragbar.

Betrachtet man das System der kyūsho durch die Geschichte stellt man fest, dass sich seine Zusammensetzung von der anderer Kriegskulturen nicht wesentlich unterscheidet. Was die japanischen Kriegskünste unterscheidet, ist die zusätzliche Lehre über die Vitalpunkte (tsubo), die auf dem Prinzip der diǎnxuè der chinesischen Medizin beruhen. Wie es dazu kam, betrachten wir in Folge unter dem Blickpunkt der japanischen Zeitgeschichte. Zunächst aber unterscheiden wir die kyūsho in drei Bereiche:

  • Schwachpunkte der Rüstung - Wahrscheinlich entstanden die ersten Erkenntnisse über verletzliche Punkte in der Praxis der bewaffneten Kriegsführung. Um den Gegner besiegen zu können, musste der Krieger die Schwachstellen der Rüstung angreifen. Es liegt nahe, dass man sich im Zeitalter der japanischen Kriege (ca. 800 - 1600) besonders mit den Schwachstellen an der Rüstung befasste und dort angreifbare Stellen, wie z.B. die Gelenkverbindungen lokalisierte. Es wurden Verfahren entwickelt, wie man diese mit Waffen durchdringen konnte.
  • Sensible Körperstellen - Wenn aber ein Krieger vom Pferd fiel, musste er in der Nahdistanz kämpfen. Dazu halfen ihm weder Pfeil und Bogen noch Speer, bestenfalls verwendete er einen durch die Rüstung dringenden Dolch (yoroi dooshi). In vielen Fällen musste er sich aber ohne Waffen verteidigen können. Unausweichlich für jeden Krieger war es daher, den unbewaffneten Kampf zu studieren. Im Bestreben, den waffenlosen Kampf zu beherrschen, wurden viele Verfahren (kumi uchi, yoroi kumi uchi) und dafür geeignete kyūsho entwickelt.
  • Vitalpunkte (tsubo) - Die Verbindung mit der chinesischen Lehre über die Meridiane und Vitalpunkte (ca. 13. Jahrhundert), ermöglichte den samurai medizinische Erkenntnisse, die sie zum Heilen (katsu, kappō) oder zum Töten (sappō) verwenden konnten. Ähnlich dem chinesischen System der diǎnxuè, verwendete auch das japanische bujutsu die positive oder negative Stimulation solcher Punkte (tsubo).

Kyūsho in der japanischen Zeitgeschichte

Legenden über die Verwendung der japanischen kyūsho wurden bereits in den Mythen des nihongi über das sumō überliefert, laut denen in vorchristlicher Zeit Nomi no Sukune (Urvater des sumō) seinen Gegner, Taima no Kuehaya, mit Tritten auf sensible Körperstellen tötete. Diese Begebenheit wird als Anfang der kyūshojutsu in Japan gewertet.

Kyūsho im japanischen Altertum (300 - 1192)

Japanische Legenden aus vorchristlicher Zeit berichten über mythologische Kämpfer, die Stellen am menschlichen Körper kannten, durch die sie ihre Gegner töten konnten. Dadurch entstand durch die Jahrhunderte eine intensive Suche nach präzisen Verfahren, durch die man töten (sappō) und wiederbeleben (kappō) konnte.<br.>Solche Punkte bezeichnet man als kyūsho. Die alten Krieger lokalisierten solche Stellen am menschlichen Körper, die es anzugreifen galt, wenn man einen „schnellen“ Sieg erringen wollte. Entsprechend lautet auch die Übersetzung für kyūsho - „schnelle Stelle“.<br.>Die sich anbahnenden internen Kriege im nara jidai (710 - 794) und heian jidai (794 - 1192), veranlasste alle Parteien dazu, nach Mittel und Wegen zu suchen, durch die sie ihre Gegner bezwingen konnten. Die immer mächtiger werdende Kriegerhorden (bushidan) in den abgelegenen Provinzen zwangen den tennō, eine kaiserlichen Armee (kondei) aufzubauen, deren Mitglieder in einem speziell für sie errichteten Trainingszentrum (butokuden) in Heian-kyō (heutiges Kyōto) ausgebildet wurden. Es wird angenommen, dass dort erste Experimente mit kyūsho stattfanden.

  • Daitō ryū 大東流 – Der legendäre Gründer des daitō ryū soll Minamoto Yoshimitsu (1045 - 1127) gewesen sein. Auf ihn führen erste Konzepte der Schule zurück. Nach Überlieferungen des daitō ryū soll er Experimente an Leichen durchgeführt und erste Kyūsho-Methoden entwickelt haben. Über Jahrhunderte entwickelte sich das System zu einem komplexen Kriegsstil des bujutsu. Am Hof der kriegerischen Takeda-Fürsten (Takeda Shingen, 1521 - 1573) aus dem Gebiet Kii entwickelte das System seine höchste Blüte als komplexe Kriegskunst.<br.>Nach vielen Generationen gründete Takeda Sōkaku (1859-1943) auf Basis seines Familienstils und anderen Kampfkünsten, die er erlernt hatte, das daitō ryū aikijūjutsu. Sein Schüler Ueshiba Morihei (1883 - 1969) veränderte das System zum modernen aikidō, das heute hauptsächlich als Methode der Gelenkmanipulationen (Hebel) verstanden wird. Betrachtet man jedoch die Überlieferungen, dann kann man feststellen, dass beim daitō ryū die atemi schon immer ein fester Bestandteil im System des unbewaffneten Kämpfens waren.

Ueshiba Morihei: "...die atemi machen 90% des aikidō aus". Die Charakteristik des unbewaffneten Aikijutsu-Systems besteht darin, einen Waffenangriff im Ausweichen mit einer Atemi-Technik auf einen Kyushō-Punkt zu kontern, in den Nahbereich des Angreifers einzudringen und den Gleichgewichtsverlust des Gegners zu einem Wurf, einer Luxation oder einer Abschnürung zu verwenden.

Kyūsho im japanischen Mittelalter (1192 - 1603)

Im weiteren Verlauf des japanischen Mittelalters veränderten sich die Machtverhältnisse in Japan. Der Kaiser (tennō) verlor die Macht an die Kriegerfürsten (daimyō), die in Rivalität zum Kaiserhaus und untereinander eigene Armeen aufbauten. Nahezu ein Jahrtausend bekämpften sie sich gegenseitig und entwickelten stets eigene Kriegssysteme (ryū). Jeder adelige Fürstenhof bemühte sich um erfahrene Lehrer (sensei), da nur diese seine Krieger in Techniken, Taktiken und Angriffszielen ausbilden konnten, die im Kriegsfall zum Sieg führten.<br.>Die ryū unterlagen stets höchster Geheimhaltung. Der Feind durfte auf keinen Fall das Kriegskonzept des hauseigenen Stils durchschauen, denn das konnte über Sieg oder Niederlage entscheiden. Durch die Geheimhaltung aber begannen sich die ryū immer mehr voneinander zu unterscheiden, worauf man heute die Vielfalt der japanischen Stile zurückführen kann. Die Ausbildung einer Armee war entsprechend dem Rang und Status der Krieger sehr unterschiedlich.

  • Buke - Eine persönliche Kriegerausbildung im familiären Klan-Dōjō (honbu dōjō) wurde nur aristokratischen Kriegern zuteil. Die buke, der sogenannte Schwertadel, bildeten die elitäre Führungsschicht im Militärwesen von Japan. Sie wurden in der Technik, Taktik und Strategie der Kriegsführung, wie auch in der Zweikampfkultur ihres ryū bestens ausgebildet.

Ein klangebundener Stil war Teil der Familientradition. An seiner Spitze stand immer der Klanchef (sōke) selbst, auch wenn die Ausbildung von einem Hauptlehrer (shihan oder kage shihan) geleistet wurde. Die denshō des ryū waren nur innerhalb dieses Kreises übertragbar.

  • Samurai - Bezeichnung für professionelle Krieger im Dienste eines Herrn. Der samurai war nicht unbedingt adelig, sondern arbeitete als Söldner für einen arbeitgebenden Fürsten (daimyō). In Friedenszeiten nahm er Polizeiaufgaben (metsuke) wahr oder konnte entlassen und arbeitslos (rōnin) werden. Manche gründeten Privatschulen und entwickelten eigenständige ryū, die noch heute höchste Beachtung finden.
  • Ji samurai – Ländliche Krieger niederen Ranges, die in Friedenszeiten ihren Landarbeiten nachgingen oder ein Stück Land verwalteten und manchmal Dörfer, Brücken und Straßen bewachten. Im Kriegsfall wurden sie zum Militärdienst eingezogen. Sie waren eher Teilzeitkrieger und hatten viel mit den Bauern gemein, um die sie sich kümmerten.

Verbindung der Kriegstechniken mit den Gesundheitslehren

Beginnend mit dem 13. Jh. wurde das shǎolín quánfǎ als kenpō nach Japan gebracht und reformierte die Techniken des sumō zum kumi uchi, yawara und hakuda. Nachdem die japanischen Mönche, Dà Zhì und Shào Yuán, nach langjährigem Shǎolín-Aufenthalt nach Japan zurückgekehrt waren, lehrten sie nicht nur neue Kampftechniken, sondern auch Stimulationsmethoden nach dem Beispiel der chinesischen Vitalpunktlehre. Dadurch entstand im bujutsu die Verbindung zwischen sensiblen Stellen (kyūsho) und Vitalpunkten (tsubo).<br.>Alte Schriften belegen, dass sich zunehmend mehr ranghohe Krieger mit den medizinischen Techniken (ijutsu) zu beschäftigten begannen. Die bisher einfachen Methoden zur Heilung von Kriegsverletzungen (seifuku) wurden mit Methoden des katsu bereichert.<br.>Die japanischen Krieger erkannten, dass die Stimulation der tsubo den Gegner sowohl heilen als auch töten konnte. Durch diese Erkenntnisse etablierten sich eigene Systeme wie kappō und sappō. Die Annalen vieler alten Schulen bezeugen, dass im engen Kreis eines honbu dōjō solche Studien intensiv betrieben wurden und die Behandlung mit Fingerdrucktherapie (shiatsu), Akupunktur (hari / shinjutsu) und Moxibustion (okyū / kyūji) ständig zunahm.<br.>Gleichzeitig begannen die Vorstände der ryū, geheime Archive über ihre Erkenntnisse anzulegen, die sie auf Papierrollen dokumentierten. Die in diesen Schriften bezeichneten kyūsho wurden stets durch kämpferische Anleitungen der jeweiligen sōke und shihan ergänzt, die in den honbu dōjō ihre geheime Lehre nur an eine kleine Auswahl von vertrauenswürdigen Krieger weitergaben. Zur Geheimhaltung der kyūsho wurden die entsprechenden Punkte unterschiedlich zu denselben Punkten in anderen Stilen benannt, wodurch man versuchte, ihre Lokalisation am Körper zu verschleiern.<br.>So war es einem Uneingeweihten, ohne Einsicht in die denshō des Stils nicht möglich, die kyūsho des ryū zu identifizieren. Zusätzlich wurde die Anleitung über ihre technische Anwendung in einer Geheimsprache verfasst. Oft sind die denshō durch die Zeit auch schlicht unleserlich geworden.

  • Kotō ryū 虎倒流 - Ein Beispiel aus jener Zeit ist das kotō ryū, von dem man sagt, dass es von China über Korea nach Japan überliefert wurde. Der genaue Ursprung dieser Schule ist unbekannt, aber seine Techniken sollen um 1542 zu einer eigenen ryū organisiert worden sein. Der Stil gilt als Schwesterschule des gyokko ryū, möglicherweise hat er sich sogar daraus entwickelt.<br.>Erwähnenswert am kotō ryū ist, dass sich innerhalb des Stils das koppōjutsu (Kunst des Knochenbrechens) entwickelte, in dem die sensiblen Körperzonen mit Atemi-Techniken angegriffen wurden. Unter der Bezeichnung kotō ryū karate wurde ein Diagramm überliefert, auf dem die entsprechenden kyūsho eingezeichnet sind.

Durch ein zusätzliches Training der Abhärtung und der Schlagkraft konnten mit Händen und Füßen tödliche Treffer, selbst gegen gerüstete Gegner erzielt werden. Die Schüler lernten im Training, ihre Hände und Füße auf harten Gegenständen abzuhärten, um die Knochen zu kräftigen. Zur Stärkung der Fingertechniken (yubijutsu) wurden die Finger in ein Gefäß mit Sand oder Kieselsteinen ( ) gestoßen. Zusätzlich verwendete man auch verschiedene Arzneien, mit deren Hilfe eine Kräftigung des Knochengewebes intensiviert wurde.<br.>Hauptsächlich ging es darum, mit abgehärteten und stabilen Knochen den weniger ausgebildeten Knochenbau des Gegners anzugreifen und zu brechen. Zur verstärkten Wirkung verwendete man dazu auch kleine versteckte Waffen (kakushi buki).<br.>Auch heute wird das kotō ryū noch geübt. Die Abhärtung der Knochen wird nicht mehr in einem solchen Ausmaß durchgeführt, aber das grundlegende Prinzip ist geblieben: mit den stärkeren Knochen die schwächeren Knochen des Gegners anzugreifen und zu brechen.

Kyūsho in der japanischen Frühmoderne (1603 - 1868)

Das Zeitalter der japanischen Frühmoderne ist durch die uneingeschränkte Herrschaft der Tokugawa-Shōgune über den weitgehend entmachteten Kaiser (tennō) gekennzeichnet Das Geschlecht der Tokugawa beherrschte Japan mehr als 300 Jahre durch ein diktatorisches Militärregime. In dieser relativ friedlichen Zeit, wurden viele samurai zu arbeitslosen rōnin. Einige von ihnen gründeten Schulen des bujutsu von denen heute noch viele bekannt sind.

Entstehung neuer Konzepte

Der Einfluss des chinesischen quánfǎ (jap.: kenpō) war in einigen Stilen spürbar. Der Chinese Chén Yuán Bīn (jap. Chin Genpin) kam 1619 nach Japan und trat in den Dienst des damaligen Owari-Fürsten als Meister der Töpferei. Im Kokushōji in Azabu (heute ein Stadtbezirk von Tōkyō) unterrichtete er Mönche und Krieger die chinesischen Techniken des shuāi und qínná. Seine Lehren beeinflussten das japanische jūjutsu. So soll er auch Miura Yojiremon, Isogai Jirōemon und Fukuno Masakatsu unterrichtet haben. Ihre Stile miura ryū, isogai ryū und fukuno ryū waren die Grundlage zur Entwicklung vieler neuer Konzepte.<br.>In diesen Systemen erfuhr der Zweikampf aus der Nahdistanz seine Blüte. Es gab keine Kriege mehr, die samurai verloren ihr existenzielles Einkommen und wanderten als rōnin (arbeitslose Krieger) umher. Sie lungerten an den Straßenecken der großen Städte und überfielen vorbeiziehende Bürger. Die Methoden der Selbstverteidigung wurden zunehmend wichtiger.

  • Kitō ryū 起倒流 – Diese Entwicklung betrachten wir zunächst am Beispiel des kitō ryū, das in der Nachfolge des yagyū shinkage ryū im Jahre 1637 von Ibaraki Sensai als umfangreiche Kampfkunst (sōgo bujutsu) des kenjutsu, iaijutsu, bōjutsu, yoroi kumi uchi und kusarigama jutsu gegründet wurde. Eine weitere Person, die einen Einfluss auf die Gründung des kitō ryū hatte, in manchen Quellen als der zweite Großmeister und anderen Quellen als ein Lehrer von Ibaraki Sensai genannt wird, ist der oben genannte Fukuno Masakatsu, der Gründer des fukuno ryū. In diesem Stil herrschten die waffenlosen Techniken des kenpō vor. Einer seiner Schüler, Terada Heizaemon, gründete in demselben Sinn das teishin ryū.<br.>Der 5. Großmeister des kitō ryū war Terada Kanemon, ein Enkel von Terada Heizaemon. Er machte das Nahkampfsystem yoroi kumi uchi zum Zentrum des kitō ryū und führte das Prinzip ran (Freiheit) oder ran o toru (Freiheit nehmen, im jūdō - randori), in die Übung ein. Bevor er sich zurückzog, gründete er das jikishin ryū, welches fast ausschließlich Techniken der leeren Hand enthielt.<br.>Der 4. Großmeister des jikishin ryū, Inoue Jibudayū Masayori, war jedoch der Ansicht, dass weder das Prinzip des jūjutsu noch das Prinzip des ran sein System treffend bezeichnen, weil beide der geistigen Wegerziehung zu wenig Rechnung trugen. Daher verwendete er später dafür den Begriff jūdō. Das jikishin ryū war somit das erste ryū, welches den Gebrauch von Techniken der leeren Hand als geistige Disziplin (budō) unterrichtete.<br.>Diese Systeme enthielten umfangreiche Lehren über die Stimulationen des menschlichen Vitalsystems und beeinflussten nachhaltig die spätere Entwicklung des jūjutsu und aikijutsu. Sie kannten und unterschieden Methoden zum Heilen (kappō) und Methoden zum Töten (sappō).
  • Yōshin ryū 楊心流 – Ein anderes Beispiel ist das yōshin ryū („Schule vom Herz der Weide“), das um 1660 herum von dem Arzt Akiyama Shirōbei Yoshitoki auf dem Prinzip des Ausweichens und des Nachgebens gegründet wurde. Vorher bereiste er China, um chinesische Medizin zu studieren, und lernte dort Methoden zum Heilen und Töten (shikatsuhō). Zurück in Japan erarbeitete er auf der Basis der kyūsho ca. 300 Kampfmethoden.<br.>Die vielen Abzweigungen (ryūha) aus dem System widmeten auch weiterhin den atemi eine besondere Aufmerksamkeit. Eine Schlüsselfigur des yōshin ryū war Iso Mataemon (1781 - 1862), der nach dem Tod seines Lehrers (Hitotsu Yanagi Oribei), sein Studium im shin no shindō ryū unter Honma Jōuemon fortsetzte. Später kombinierte er die beiden Schulen zum tenjin shinyō ryū, in dem er 124 Techniken entwickelte. Er unterrichtete 5000 Krieger am kobushō (Übungszentrum der Tokugawa-Shōgune) und wurde für seine exzellenten Atemi-Anwendungen bekannt. In seinem System war es unumgänglich, die kyūsho zu studieren, um die atemi richtig einsetzen zu können.

Kyūsho - Entwicklung bis heute (1868 - 1989)

Im meiji jidai (1868 - 1912) wurde der gesellschaftliche Status der samurai aufgehoben und auf das Niveau des Normalbürgers reduziert. Dadurch verloren die Krieger ihre Privilegien und ihre jahrhundertlang geheim gehaltenen ryū ihre Autorität. Doch viele sensei führten ihre dōjō weiter und bewahrten die Geheimnisse ihrer ryū. Diejenigen, die im Besitz eines menkyo kaiden waren, bewahrten die altüberlieferten denshō ihres Stils und waren zusätzlich Experten in seifuku, katsu, shiatsu und okyū.<br.>Am 28. April 1895 wurde im butokuden von Kyōto die Organisation butokukai gegründet. Die Institution sollte nach dem Willen der Meiji-Regierung als ein politische Forum allen japanischen ryū übergeordnet sein, ihre tatsächliche Kampfkraft testen und die wirkungsvollsten Stile dem japanischen Militär zugänglich machen. Statt dem Begriff bujutsu wurde der Begriff budō gebraucht.<br.>Dafür erhielt die Organisation erhebliche Regierungsgelder und konnte damit 1899 einen neuen butokuden in Kyōto bauen, der ihr als Hauptquartier und Ausbildungszentrum dienen sollte. Die Organisation wurde von einem regierungsbestimmten Komitee geführt, das die budō menjō (bzw. bujutsu menjō - Rangbescheinigungen der Kampfkunstmeister) und die shihan menjō (Lehrerlizenzen) durch ein einheitliches Graduierungssystem (dankyū seido) feststellte, vergab und bestätigte. Alle Stile, die sich dem butokukai nicht anschlossen, wurden als inoffiziell erklärt und standen außerhalb der staatlichen Autorisierung.<br.>Durch diese Restriktion zwang die Organisation die Stilvorstände des bujutsu zum Beitritt oder in die Illegalität. Dadurch sind viele Stilkonzepte verschwunden, weil sich ihre Vorstände dem politischen Druck des butokukai verweigerten und ihre Lehren (denshō) mit ins Grab nahmen.

  • Kōdōkan jūdō 講道館柔道 – Im Jahre 1877 wurde der junge Kanō Jigorō ein Schüler von Fukuda Hachinosuke und Iso Masatomo und lernte die Techniken der atemi-, shime- und kansetsu waza des tenjin shinyō ryū. Ab 1881 studierte er unter Iikubo Tsunetoshi das kitō ryū und das jikishin ryū. Hier lernte er yoroi kumi uchi und die fünf koshiki no kata, die sich später im jūdō des kōdōkan fortsetzten.<br.>Kanō gilt als Begründer des kōdōkan jūdō, zu dessen Übung er 1882 im Eishōji-Tempel in Tōkyō den kōdōkan (Schule zum Studium des Weges) errichtete. Er griff für die Öffentlichkeit den Wert des Budō-Trainings auf und propagierte die Idee für die Erziehung der Jugendlichen im sozialen Bereich. Das Training des jūdō, kendō, naginatadō u.a. entstanden unter dem Zeichen des budō und wurde als Schulsport eingeführt.

Kyūsho in der imperialen japanischen Armee (1906 - 1940)

Mit erneuten Geldern vom Kaiser errichtete der butokukai im Jahre 1906 eine militärische Schule (budō senmon gakkō). Durch die imperiale Politik Japans bahnten sich Eroberungskriege an und entsprechend wurde auch der butokukai in anstehende Kriegsvorbereitungen eingebunden. Im Jahre 1911 veränderte sich die senmon gakkō in eine ausschließlich militärische Schule (busen), deren Aufgabe darin bestand, Offiziere für das Militär auszubilden. Diese lernten in einem mehrjährigen Programm neben Technik und Taktik der Kriegsführung auch Nahkampfkonzepte mit Angriffe auf die kyūsho. Für die Ausbildung im Nahkampf wurden die besten Lehrer der ryū verpflichtet. In dieser Zeit koordinierte der mächtige butokukai das gesamte Kampfkunstgeschehen in Japan. Nachdem er die ryū nach ihrem Wirkungsgrad sortiert hatte, stellte er Vorstände und Übungsleiter aus den dōjō zur Ausbildung der Truppe ab. Diese unterrichteten ihre stilspezifischen Ausbildungssysteme, die sich jedoch im nachfolgenden Krieg als ungeeignet abzeichnen sollten.

Kyūsho im Zweiten Weltkrieg (1940 - 1945)

Nachdem die japanische Armee bis 1943 siegreich durch den pazifischen Ozean zog, wurde sie an Land von den US-Marines empfindlich getroffen. Die japanischen Frontsoldaten hatten im direkten Nahkampf den US-Marines nichts entgegenzusetzen und waren hoffnungslos unterlegen. Diese Erkenntnis war ein Schock für die Verantwortlichen des militärischen Ausbildungssystems, denn im Bewusstsein der japanischen Nahkampfkultur wurde eher das Gegenteil erwartet. Die erneute japanische Überheblichkeit führte zu einer Katastrophe im Landkrieg. Aber die Ultra-Nationalisten drängten zum totalen Krieg und hatten den Rückhalt der ganzen Nation. Sie zwangen die Militärausbilder zu drastischen Maßnahmen einer neuen Kriegspolitik, die zu erheblichen Kriegsverbrechen und am Ende zum Einsatz der kamikaze führte.<br.>Diese Entwicklung begann damit, dass man versuchte, der nahkampftechnischen Überlegenheit der US-Marines an der Front Einhalt zu gebieten. Zu diesem Zweck erfolgte vom militärischen Generalstab der Befehl, ein Nationales Zentrum zur Erforschung altüberlieferter japanischer Kriegstechniken zu gründen. Vorsitzender war Saikō Fujita, der 14. Großmeister des koga ryū. Die Vorstände der alten Stile (koryū bujutsu) wurden aufgefordert, ihre geheimen Aufzeichnungen (densho) und alle damit zusammenhängenden Erläuterungen unverzüglich im Forschungszentrum abzuliefern. Zum Zwecke weiterer Erkenntnisse sandte der japanische Geheimdienst Agenten in das besetzte China, die dort Veröffentlichungen über die diǎnxuè beschlagnahmten und Meister des quánfǎ verhörten. Ende 1943 fanden sich Mediziner und Stilvorstände des bujutsu im Forschungszentrum ein, um die zusammengeführten Unterlagen auszuwerten. Zunächst begann man die Angriffsmethoden der Marines zu simulieren und mit Techniken aus dem bujutsu zu kontern. Allerdings gab es Schwierigkeiten in der Umsetzung der überlieferten densho in die moderne Kriegsführung. Da die densho der alten Stile aus einer anderen Zeit stammten und zusätzlich verschlüsselt weitergegeben wurden, war es schwierig, sie in der modernen Kriegspraxis zu verwenden.<br.>Schließlich richtete man Forschungseinheiten ein, die auf unkonventionelle Weise die Erkenntnisse der alten bujutsu ryū in die moderne Kriegsführung übertragen sollten. Eine der bekanntesten war die Einheit 731, an deren Experimenten sich eine große Anzahl von hochrangigen Kampfkunstexperten beteiligte. Sie benutzten Tausende von schwarzen und weißen Gefangenen, um festzustellen, ob beim Schlagen der Vitalpunkte ein Unterschied zwischen Afrikanern, Europäern und Asiaten besteht. Aus dem Protokoll:

"Der Gefangene wird mit einer bestimmten Technik auf einen bestimmten Vitalpunkt geschlagen, worauf er das Bewusstsein verliert. Er kann mit einer Katsu-Technik erfolgreich reanimiert werden. Daraufhin wird dieselbe Technik mit größerer Kraft ausgeführt. Sein Herz steht minutenlang still, doch die Reanimation gelingt mit einer anderen Katsu-Technik. Der Versuch wird mit einem Schlag auf einen anderen Vitalpunkt wiederholt. Ebenfalls bleibt das Herz stehen, die Reanimation verläuft erfolglos…" (Saikō Fujita & Henry Plee).

Die involvierten Experten dieser Einheit opferten bewusst Menschenleben, um den Kriegsverlauf zu japanischen Gunsten zu wenden. Durch ihre Studien hofften sie, die US-Marines im Nahkampf mit bloßen Händen und Füßen außer Gefecht setzen zu können. Die Resultate ihrer Experimente wurden unter „Top-Secret“ aufgezeichnet. Ehe sie aber von den Instruktoren der Fronteinheiten umgesetzt werden konnten, wurden sie 1945 zum großen Teil durch Bombenangriffe zerstört. Nach dem Krieg wurde nur noch ein Drittel der Studien wieder gefunden. Die an diesen Forschungen direkt Beteiligten wurden nach dem Krieg als Kriegsverbrecher hingerichtet. Die verantwortlichen Offiziere aber gingen in die Politik und wurden Abgeordnete oder Minister. Sie halfen den Amerikanern, die gewonnenen Erkenntnisse im US-Geheimdienst zu etablieren. Später wurden die Methoden des jūjutsu und karate im „Marine Guide Book“ aufgenommen. Neben den USA etablierten in den Folgejahren die Militärs verschiedener Länder entsprechend ausgebildete Spezialeinheiten - allen voran die Sowjetunion und Israel. Im europäischen Raum entstand die Notwendigkeit dazu zuerst in Frankreich, in Deutschland zwang das Attentat während den Olympischen Spielen (München, 1972) zu solchen Konsequenzen. Mittlerweite gibt es solche Einheiten in den meisten Armeen der Welt. Sie haben nichts mit den kommerzialisierten kyūsho des budō zu tun, sondern lehren das „schnelle Töten“ des Gegners im Krisenfall.

Entwicklung nach dem Weltkrieg (1945 - 1989)

Nachdem Japan den Weltkrieg verloren hatte, wurden alle Organisationen des bujutsu von den Amerikanern verboten. Sie standen unter dem Verdacht subversiver Tätigkeiten, denn ihre Vorstände waren und sind zum Teil noch heute überzeugte Nationalisten. Über Umwege wurde 1952 die kokusai budōin (International Martial Arts Federation - IMAF) als Folgeorganisation des butukai gegründet und als Stiftung des japanischen Kaiserhauses deklariert. Kurze Zeit darauf wurde auch der butokukai wieder ins Leben gerufen, der heute erneut seinen altbewährten Status beansprucht. Die Organisation hat mittlerweile wieder Repräsentanten in vielen Ländern der Welt. Im Zuge der Olympischen Spiele wurde im Jahre 1964 der budōkan in Tōkyō errichtet, der politisch gewollt, die japanischen Kampfkünste als Wettkampfsport vertreten sollte. Darüber hinaus sollte diese Institution die Tradition der japanischen Kriegerstile in der Welt verbreiten. Etabliert wurde dazu die Idee des budō ("Weg des Kriegers"), verbreitet aber wurde Sport und Wettkampf als Werbeträger für die Integration des modernen Japan in die Weltgemeinschaft.

Kyūsho in den okinawanischen Systemen

Kyūshojutsu war im bujutsu eine Hilfe, um einen Angreifer zu besiegen, im budō das Resultat tiefgreifender Medizinstudien. Nur die kyūsho zu lernen ist Unsinn. Sie sind nur im Zusammenhang mit dem Stilsystem anwendbar und erfordern innerhalb desselben ein ausgedehntes zusätzliches Studium. Die kyūsho der okinawanischen Systeme stammen aus direkten mündlichen Übertragungen von Quánfǎ-Lehrern auf ihre Schüler. Bis auf das bubishi sind keine schriftlichen Überlieferungen dazu bekannt.<br.>Ohne Zweifel gab es aber auch in den okinawanischen Stilen geheime Studien über die kyūsho. Alte Überlieferungen berichten über Praktiken der okurasu goroshi („verzögertes Töten“). Es gibt eine Geschichte über die Anwendung solcher Techniken, die sich zur Zeit des Zweiten Weltkrieges auf Okinawa zugetragen haben soll. Dort lebte ein Karate-Lehrer namens Hiro, der diese Kunst beherrschte. Als ein japanischer Soldat auf Okinawa einen Bauern misshandelte, griff Hiro ein, brach dem Soldaten das Handgelenk und versetzte ihm einen Schlag. Ehe er dann in die Wälder fliehen musste, warnte er den Soldaten, dass dieser nach drei Tagen sterben würde. In der Tat wurde der Soldat nach der angekündigten Zeit krank und starb. Die Militärärzte standen vor einem Rätsel und bescheinigten ihm Herzversagen. Als diese Geschichte nach dem Krieg die Öffentlichkeit erreichte, wurde Hiro ein vielgesuchter Karate-Lehrer, doch er weigerte sich, seine Methode zu lehren. Kurz vor seinem Tod sagte er auf das Drängen eines seiner Schüler: „Der Schlag wird mit tegatana ("Schwerthand") eine Handspanne über inazuma ausgeführt.“ Mehr wollte er nicht sagen, doch der Schüler ging mit seinem Wissen zu einem Arzt, der Folgendes erläuterte: "Der Schlag mit der Handkante auf die bezeichnete Stelle kann eine schwere Schädigung der Milz hervorrufen, was nach einigen Tagen zu einer Infektion führt, die den Tod bewirkt". Okurasu goroshi unterscheidet sannen goroshi („Tod nach drei Jahren“), gonen goroshi („Tod nach fünf Jahren“) und gotsuki goroshi („Tod nach fünf Monaten“). Diese geheime Wissenschaft stammt aus den chinesischen Stilen des quánfǎ, in denen eine hohe Kunst der Vitalpunktstimulationen (diǎnxuè) entwickelt wurde.

Studien Informationen

Siehe auch: Kyūshojutsu | Jintai kyūsho | Vitalpunktlehre | Chinesische Vitalpunktlehre | Japanische Kampfsysteme | Bujutsu | Kobujutsu | Budō |

Literatur

Weblinks